Der Reiz von Kriminalerzählungen liegt vor allem darin, dass sie zeigen, wie jede mögliche oder unmögliche Situation entgleisen und zu einem Kriminalfall werden kann. Gerade Österreich, das Land der Dauerentgleisungen, entwickelt sich zunehmend zu einem Paradies für Kriminalschriftstellerinnen.

Herbert Dutzler, der immer wieder als die Kriminal-Seele Österreichs bezeichnet wird, deutet in den vierzehn Kriminalgeschichten an, woraus das Land besteht, wenn man seinem Geflüster zuhört: aus verzwickten, verdrossenen und verdroschenen Kleinkrämerseelen, die sich durch den Alltag retten müssen. So kaputt kann es freilich gar nicht zugehen, dass nicht einer der Beteiligten lachen müsste, und sei es nur der Leser.

Die echten Krimis spielen nicht in der lauen Wachau unter Marillen sondern in den zusammen gestampften Soziotopen der Wälder Kalabriens und des Dschungels von Mailand.

Gioaccino Criaco greift die Erzählform eines Soziologen auf, der in Ich-Form quasi eine Feldstudie an sich selbst durchführt. Tatsächlich ist der Plot autobiographisch, wonach die Söhne von kalabrischen Ziegenhirten nach Mailand zum Studieren gehen und später in der Heimat das Land politisch aufzumischen versuchen. Die Figuren, Strategien, Motive und Prozesse sind aus der unmittelbaren Zeitgeschichte entnommen, wie sie sich in den Chronik-Teilen lokaler Zeitungen seit Jahrhunderten darbieten.

Alles, nichts und beides sind radikale Mengenangaben, wo es keinen Nachlass oder Rabatt gibt. Alles, nichts und beides ist eine Überlebensformel, die für alle wesentlichen Themen in Frage kommt: Liebe, Tod, Bleiben, Weggehen.

Amina Abdulkadir nennt die Anwendung ihrer Lebensformel Kürzestgeschichten, denn sie sind das radikalste Narrativ, das es für eine Ausnahmesituation gibt. Diese Geschichten haben oft die Gestalt eines Stachels und werden dem anwesenden Fleisch eingerammt als Mahnmal, Gedächtnisstütze oder Erinnerungs-Pikser.

Wenn es mit dem „Schnitzal“ Probleme mehliger, bröseliger oder eiiger Art gibt, wird das in Österreich bald einmal zu einem Problem und kann in eine Tragödie münden.

Harald Darer nennt seinen Roman patriotisch-kühn „Schnitzteltragödie“, dabei gibt es auch Probleme mit dem Leberkäs, den Forellen und den Krusten allgemein. Man ahnt es schon, in diesem Roman hat ein österreichischer Alltagsheld ordentlich zu leiden, bis er gegen Abend hin mit dem Alltag durch ist.

Es gibt Tausende Gründe, einen zeitgenössischen Roman zu lesen, einer könnte sein, dass man herausfinden möchte, wie in einem vom Bürgerkrieg bedrohten europäischen Land die junge Intelligenz tickt und welchen Themen sie sich zuwendet.

Sofia Andruchowytsch gilt als ukrainischer Shooting Star der Literaturszene und hat als Tochter des berühmten Jurij Andruchowytsch vermutlich jede Menge Bonus und Malus auszuhalten. Interessant ist jedenfalls, wovon eine Autorin mitten in einer wild gewordenen Welt schreibt: Vom Leben eines Dienstmädchens im galizischen Stanislau des Jahres 1900!

Der Osten ist nicht nur eine Himmelsrichtung sondern auch ein Lebensgefühl, eine Farbe des Unterbewusstseins oder eine permanente Wetterlage.

Andrzej Stasiuk, der Fachmann für Peripherie, devastierte Ländereien und aufgelassene Soziotope, kümmert sich in seinem historisch-poetischen Roman um jenen vagen Osten, der durch Geschichten plötzlich erzähl- und begreifbar wird. Der Ich-Erzähler erarbeitet sich den Osten in drei „Stoßrichtungen“, wie das Wehrmachtswort für den Nazikrieg im Osten heißt.

Um ein großes Bild zu begreifen, muss man vielleicht einen passenden Roman dazu lesen. Wenn es diesen Roman noch nicht gibt, muss man ihn schreiben.

Friederike Schwab erzählt im Roman „Geburtstag mit Magritte“ von der Heilkraft eines Bildes, das eine komplette Lebensverstörung überwinden hilft. Dabei geht es um zwei künstlerisch ambitionierte Familien in Amsterdam und Wien, die jeweils einen aufgeschlossen rationalen Lebensstil pflegen.

Eine besonders professionelle Form einer Roman-Struktur besteht im Nacherzählen, Umschreiben und persönlichen Infiltrieren eines anerkannten Textes. 1962 ist der Roman „Die Gärten der Finzi Contini“ von Giorgio Bassani erschienen, 1975 kommt die Verfilmung durch Vittorio De Sica.

Buch und Film fesseln Waltraud Mittich sofort und lassen sie ein Leben lang nicht mehr los. Jetzt hat sie eine Figur der Gartenszenerie, nämlich das überlebende jüdische Mädchen Micòl, mit einem anderen Schicksal versehen und sie als kämpfende, selbstbewusste Frau durch das Nachkriegseuropa geschickt.

Scheinbar unverfängliche Themen machen explosionsartig auf und zeigen eine Riesenwunde der Zeitgeschichte, wenn man sie mit vorsichtigem Erzählbesteck serviert.

Michael Krüger hat es im Laufe seines literarischen Wirkens immer wieder zu erzählerischen Tretminen hinan gezogen, in deren Nähe höchste Explosionsgefahr besteht. Eines dieser Kapitel nennt sich deutsche Völkerkunde in Brasilien. Deutsche Ethnologen sind meist in den Dschungel gegangen, um etwas zu vertuschen, und haben bei ihrer Rückkehr in die Zivilisation von erfreulichen Forschungsergebnissen gesprochen.

„Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass Sexuelles überall präsent ist, dass wir gelernt haben, es zu übersehen. Ironischerweise sei Pornographie durch die blanke Allgegenwart praktisch unsichtbar geworden, schreibt die Soziologin Gail Dines. Recht hat sie. Gleiches gilt allemal für das Sexuelle, das uns täglich rund um die Uhr begegnet.“ (8)

Wie stark sich das Sexuelle im letzten Jahrzehnt in der Erlebniswelt unseres Alltags ausbreiten konnte, macht Ingelore Ebbersfeld an zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens anschaulich, sei es in der Fernseh-, Kino- oder Musikwelt, sei es auf der Theaterbühne oder auf Fotos. Aber auch die Vorstellungen vom eigenen Körper sowie von der Normalität sexueller Praktiken haben sich im Laufe der Jahre massiv geändert. All das hat massive gesellschaftliche Auswirkungen, was in einem veränderten Schamempfinden und einer Verrohung der Sprache zum Ausdruck kommt.