Lyrik

Hannes Vyoral, Ostinato

h.schoenauer - 26.06.2023

hannes vyoral, ostinatoUnter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.

Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.

Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.

Sirka Elspaß, ich föhne mir meine wimpern

h.schoenauer - 21.06.2023

sirka elspaß, ich föhne mir meine wimpernDer stärkste Satz eines Gedichtbandes ist meist der Titel. Nicht nur dass er im Bibliothekswesen ständig zitiert wird, denn die Ordnung in der Bibliothek geschieht durch Zitieren, oft drängt sich so ein Titel auch ins Langzeitgedächtnis vor und nistet als Gassenhauer.

Sirka Elspaß überschreibt ihren Gedichtband mit dem fröhlichen Selbstkommentar „ich föhne mir meine wimpern“. Darin ist mustergültig zum Ausdruck gebracht, was Lyrik an einem unauffälligen Tag auszulösen vermag. Es geht um den „lyrischen Höhepunkt“, an dem der berüchtigte Vogelschnabel das Ei durchstößt, oder ein Airbag aufgeht, um eine Lenker-Biographie zu verändern.

Jörg Reinhardt, Zeitlupenwege

h.schoenauer - 07.06.2023

jörg reinhardt, zeitlupenwegeWenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.

Jörg Reinhardt umschreibt das programmatische Gedicht zu diesem Vorgang mit „Zeitlupenwege“ (157), am Cover ist dieser Begriff zudem zu einem Dreizeiler aufgerüstet: Zeit Lupen Wege. In diesem Begriffsgedicht laufen Chronik, Dimension und Distanz zu einer Kürzest-Theorie zusammen, die einen Text vom Ersteintrag als Notiz an bis hin zu einem epischen Langgedicht betreut.

Alexander Peer, Gin zu Ende, achtzehn Uhr

h.schoenauer - 05.06.2023

alexander peer, gin zu endeJe nach Gemüt, Stimmung oder Zustand der intellektuellen Datenbank bringt Lyrik bei der Rezeption eine Menge Sichtweisen ins Spiel. Die zwei wichtigsten sind immer: Schlüsselwörter und Konzeption.

Damit ist gemeint, dass es vor allem Reizbegriffe und Schlüsselwörter sind, die das Individuum zum Erklingen und Erschüttern bringen, wenn es einen lyrischen Text liest. Die zweite Komponente ist die sogenannte Konzeption, damit ist jenes Programm gemeint, auf das sich die urhebende Person stützt. Die steilste Form der Lyrik ist demnach die Konzeptlyrik. Dabei wird zwar ein Programm beschrieben, die Ausführung wird aber den Anwendern überlassen.

Joachim Gunter Hammer, Quantenschäume

h.schoenauer - 19.05.2023

joachim gunter hammer_quantenschäumeWenn ein physikalisches Thema mit einem Nobelpreis für Physik ausgestattet wird, sollte dann nicht auch in der Lyrik dieses Thema aufgegriffen werden?

Joachim Gunter Hammer verfasst schon ein Leben lang Gedichte, die in der Welt der Physik spielen, mit mathematischen Formulierungen jonglieren und biologische Kreisläufe jäh unterbrechen, um sie poetisch fortzusetzen.

Im Diskurs über seine Gedichte tauchen manchmal plastische Bilder auf, um die Vorgänge rund um seine Lyrik halbwegs in Worte zu fassen. Ein bemerkenswerter Vergleich spricht davon, dass Joachim Gunter Hammer nicht Gedichte „baut“, indem etwas aus dem Nichts konstruiert wird, sondern dass er sie „abbaut“, wie Erze in der Montanistik.

Markus Lindner / Andreas Pavlic, Sternhagel

h.schoenauer - 26.04.2023

andreas pavlic, sternhagelBücherfreunde wissen: Die Steigerung von Buch heißt Umkehrbuch. Das ist eine Art U-Turn, wie man ihn im Rallye-Sport kennt. Man hält das Buch wie immer, macht einen U-Turn, und hat plötzlich ein anderes Buch in der Hand. Die erste Frage bei der Lektüre eines Split-Buches lautet folglich: Was lese ich zuerst? Lese ich in einem Zug bis zur Mitte, oder wechsle ich nach jedem Gedicht die Buchhälfte?

Markus Lindner und Andreas Pavlic schweißt ein Schicksal zusammen, sie sind beide von Tirol-Erinnerung gewürgte Aussiedler, die ihre Jugenderinnerungen an Innsbruck mit einem Blues würzen, um diesen schließlich mit überregionalen Themen zu überlagern.

Konstantin Kaiser, Die Entfremdung ist ein Untermieter der Hoffnung

h.schoenauer - 19.04.2023

konstantin kaiser, die entfremdung ist ein untermieter der hoffnungTitel sagen mittlerweile weniger darüber aus, was in einem Buch drinsteht, als vielmehr was der Leserschaft zugemutet wird.

Konstantin Kaiser fordert die Lesenden schon vor dem Aufschlagen des Buches heraus: „Die Entfremdung ist ein Untermieter der Hoffnung.“ Die drei Hauptwörter kommen im Alltag zwar regelmäßig vor, in dieser Konstellation und gegenseitigen Hochachtung sind sie eine Spezialität des Autors, der scheinbar gewöhnliche Beobachtungen in jenes Licht setzt, das einen direkten Draht zum Hintersinn hat. Die Hoffnung scheint das große Gebäude zu sein, in das wir uns einmieten, damit wir heimisch werden. Mittlerweile ist das Gendern schon so allgegenwärtig, dass eine höhere Absicht vermutet werden darf, wenn die Entfremdung mit dem Untermieter korrespondiert.

Jörg Waldhauser, Rondine

h.schoenauer - 14.04.2023

jörg waldhauser, rondineVor Jahrzehnten, als die Heranwachsenden noch hirnlos in den Tag hineinstudiern konnten und anschließend einen Job ins Maul geflogen bekamen, machte in Tirol ein seltsames Gerücht die Runde: In Hall sitzt in der Nudelfabrik während der Nacht ein Philosoph an der Pforte und sinniert während seiner Aufsicht über den Sinn der Welt nach.

Beim „Nacht-Denker“ handelt es sich um Jörg Waldhauser, der im aktuellen Jahrhundert durchaus anerkannt seine Gedankenrunden durch diverse Veranstaltungen dreht und stets ein aufgewühltes Gefühl bei den Angetörnten hinterlässt. Auch wenn man den Gedanken oft nicht nachfolgen oder gar zustimmen kann, so bleibt doch ein zarter Rüttler im Gedächtnis, wie wenn man einen Weidezaun (heute Wolfsmanagement) berührt hätte.
Diese Einschätzung zu Lebzeiten berücksichtigt jenen Teil der Literatur Jörg Waldhausers, die dieser als eine Art „philosophische Performance“ zur Anwendung brachte. Erst nach seinem Tod kamen die Schriften, Bilder und Materialien zum Vorschein, die als Nachlass seit 2019 im Brenner-Archiv sondiert werden.

Laura Weidacher, Inselland

h.schoenauer - 08.04.2023

laura weidacher, insellandWas für eine Verheißung! Inselland – ein doppeltes Glücksversprechen, wenn die lyrische Seele sich auf eine Insel zurückzieht und gleichzeitig über weites Land schwebt.

Laura Weidacher steckt schon im ersten Gedicht den Claim ab, auf dem sich später das lyrische Ich bewähren wird im Sturm, der die heftige Witterung vor sich hertreibt, um Platz zu machen für die neuen Jahreszeiten, die er im Schlepptau hat.

„Inselland // Das Land ist eine Insel / umspült von Bäumen und Bergen / die Quais befestigt mit Stahl und Gold // Vierflössler, ungeschuppt / treiben die Bewohner am Strand / wasserlos reibt sich die Haut am Goldgrund // Tot ruht der Reichtum tief in den Tresoren / und die Trutzburg taub für das Brausen / des Weltwinds von Süden her“ (9)

Ronald Weinberger, Irrlichternde Gedichte

h.schoenauer - 05.03.2023

ronald weinberger, irrlichternde gedichteDer wissenschaftlichste Witz aller Zeiten geht in etwa so: Ein Witz kommt auf die Bühne und erklärt, dass er ein Witz sei.

Ronald Weinberger reizt mit seinem Lyrik-Potpourri „Irrlichternden Gedichte“ jene Grenze aus, die zwischen Humor und Wissenschaft, Witz und Traktat liegt. Dabei tut sich ein unerwartetes Problem auf: Wächst der Humor mit dem Wissen mit? Oder trennen sich die beiden während des Gedichtes, wenn es ihnen zu viel wird?