Lyrik

Patricia Brooks, Bukarest Bistro

h.schoenauer - 02.11.2022

patricia brooks, bukarest bistroFür eine Reise durch die Geographie braucht es ähnliche Stützpunkte wie für eine Reise durch das weite Land der Poesie. Einmal sind es Karawansereien, Biwak-Boxen oder Bistros, die das reisende „Wir“ versorgen, dann sind es wieder Wolkenballen, Sträucher und Licht, aus denen sich die Gedichte speisen.

Patricia Brooks setzt für ihre Reise das „Bukarest Bistro“ in Szene und in den Titel. Darunter finden sechzig Gedichte Unterschlupf und berichten von einer imaginierten Welt auf mehreren Ebenen. Einmal ist mit dem Bukarest Bistro eine Location benannt, wie wir sie überall auf der Welt vorfinden, wenn jemand der rumänischen Hauptstadt zuliebe ein Café aufgemacht hat. Andererseits ist ein märchenhaft fernes Land damit verknüpft, das zur Anreise animiert, und drittens liefert der Begriff eine erste Befriedigung jener Sehnsucht, wegen der wir aufgebrochen sind.

Raimund Bahr, Poeterey eines Unbrauchbaren

h.schoenauer - 24.10.2022

raimund bahr, poeterey eines unbrauchbarenVielleicht sollte man Poeterey ganz despektierlich mit Tätigkeiten vergleichen, die ebenfalls mit einem Ei enden: Bücherei, Metzgerei, Bäckerei. Alle diese Cluster-Verrichtungen sind vom Aussterben bedroht, weil sie für das aktuelle Gesellschaftsleben „unbrauchbar“ sind.

Raimund Bahr versetzt sich in die Lage eines Unbrauchbaren, der nach alter Manier etwas anstrebt, was Nachdenken, Reimen, Spinntisieren, Aufschreiben bedeutet. Poeterey ist eine ausufernde Tätigkeit, die sich ständig selbst Regeln überstülpt, um sich halbwegs in den Griff zu bekommen.

Jürgen Becker, Gesammelte Gedichte 1971-2022

h.schoenauer - 03.10.2022

jürgen becker, gedichteIn Glücksstunden kann das Lesen zu einer Philosophie ausarten, worin bekanntlich die Gedanken umso klarer werden, je disziplinierter sie eingefangen sind. Nicht das hemmungslose Ausschweifen bringt die freien Gedanken in den Kopf, sondern das disziplinierte Heranführen desselben an jenen Horizont, an dem eine andere Sprache, Semantik oder Logik beginnt.

Für sogenannte „reife Leser“ spielen mit zunehmendem Alter Leserituale eine Rolle. Sie geben den flatternden Augen nicht nur Stabilität, Zeilen zu halten und abzutasten, fixe Gewohnheiten ermöglichen es erst, täglich eine Art unerforschtes Gelände zu erkunden.

Angelika Stallhofer, Stille Kometen

h.schoenauer - 21.09.2022

angelika stallhofer, stille kometenLyrik steckt meist schon auf den ersten Blick ein Territorium ab, das mit eigentümlichen Fügungen beschrieben wird, wie man etwa Stadtviertel mit Graffiti markiert. Die lyrischen Signale zeigen den Eingeweihten sowohl Tageslosung als auch Zukunftsprogramm, während Außenstehende die Wort-Zeichen wie Piktogramme lesen, denen keine unmittelbare Handlung folgt.

Angelika Stallhofer nennt ihre Gedichte-Sammlung „stille Kometen“, sie weitet ihr Wortrevier aus, indem sie ins Universum blickt, aus dem heraus vielleicht lautlos Kometen einschlagen. Von dieser Konstellation stiller Kometen ausgehend erhält auch die Wortkette mit den fünf Kapitelüberschriften eine erste Deutungsmöglichkeit: Brennen, Wasserstellen, Surren, Schlingen, Schwebebahn. Die Begriffe erzählen eine Geschichte, wie es Objekte in einer Galerie tun, wenn sie hintereinander abgegangen werden und sich bei den Flanierenden zu einem individuellen Ereignis verdichten.

Siljarosa Schletterer, azur ton nähe

h.schoenauer - 22.08.2022

siljarosa schletterer, azur ton näheDie verschwiegenste Lyrik wächst für Augenblicke aus dem großen Fließen heraus, wenn das abgedriftete Auge zurückschnellt, um abermals dem Verlauf des Wassers zu folgen.

Siljarosa Schletterer siedelt ihre Gedichte an einem Fluss- und Fließsystem an, „azur ton nähe“ belegen als Farbe, Musik und Innigkeit unbegleitete Wörter, die scheinbar zufällig als Flusskiesel am Ufer liegen.

Dieses Gewässersystem ist einerseits als imaginäres Netz von Lebenssubstanz über die Erde gespannt, andererseits mit GPS-Daten verortet. So wie heute bereits jedem Foto die Aufnahme-Koordinaten innewohnen, so sind die Gedichte mit konkreten Daten hinterlegt und als Überschrift gesetzt. In einem angeschwemmten Flussverzeichnis am Ende des Bandes kommen die Flüsse als Register zum Vorschein, und in diesem Fall sind die Schwerpunkte mit den Seitenzahlen des Gedichtes fixiert.

Heinz D. Heisl, Gereinigter Haushalt. Gedichte

h.schoenauer - 11.07.2022

heinz d. heisl, gereinigter haushaltVielleicht gibt es in der Lyrik so etwas wie poetische Hygiene, wonach die Beteiligten aufgeräumt in sich selber wohnen und so geschützt sind von Lebewesen allzu einfacher Bauart, wie es Viren und Bakterien darstellen. Nur wer den täglichen Attacken als Zwischenwirt standhält, kann seinen künstlerischen Blick stabil halten wie auf einem Stativ.

Heinz D. Heisl hat eben noch von „Dieben im Haus“ erzählt, die zumindest am Papier die Hausordnung stören, und deshalb als Warnung am schwarzen Brett enden. Vielleicht ist auch ein schmutziges Verbrechen im Haus geschehen, und der Tatortreiniger musste eingeschaltet werden.

Stephan Eibel Erzberg, decke weg.Gedichte

h.schoenauer - 27.06.2022

stephan eibel, decke wegZu den spitzen Aktionen, die auf elementare Bloßstellung hinauslaufen, zählt sicher das pädagogisch fragwürdige Spiel „Decke weg!“. Dabei wird in großen Schlafräumen spontan kontrolliert, ob die Schlafklienten die Hände an der richtigen Stelle haben und nicht am Genital herumfuhrwerken.

Stephan Eibel hat ein feines Gespür für Fügungen, die das Ungeheuerliche in netten Bildern zu verstecken versuchen. Decke weg ist ein brutaler Befehl, der jahrzehntelang aus Internaten und dem Bundesheer ins Freie gedrungen ist, wo freilich niemand zugehört hat.

Helga Pregesbauer / Eleonore Weber (Hg.), Corona. Eine Anthologie

h.schoenauer - 13.05.2022

helga pregesbauer, coronaBei der Stofflektüre aus dem Ersten Weltkrieg ist es nach hundert Jahren egal, ob jemand in den ersten Wochen gestorben ist, wie Georg Trakl 1914 in Grodek, oder im zweiten Jahr der Katastrophe, wie August Stramm 1915 am Dnjepr-Bug-Kanal.

Corona wird vielleicht in hundert Jahren ähnlich abgekühlt betrachtet werden, noch ist offen, welche Schriftsteller dann literarisch noch am Leben sein werden.

Susanna Bihari, 3 x Liebe

h.schoenauer - 22.04.2022

susanna bihari 3 mal liebeSchon seit Jahrhunderten wird die Liebe mit einer Kanonenkugel verglichen, bei der Abschuss und Einschlag gleich heftig sind. Dazwischen liegen die drei ballistischen Phasen aus dem Flugverkehr, Steigen, Gleiten, Sinken.

Susanna Bihari hält sich mit ihren Liebesgedichten an diese ballistischen Grundregeln, drei mal Liebe bedeutet vorerst, dass die Phasen sauber abgearbeitet werden mit schönen Formulierungen: „Du bist Kapitel 1“ (9), „Du bist Kapitel 2“ (33), „Und du bist Kapitel 3“ (55). Diese Gliederung lässt verschiedene Phasen-Lover zu, es kann aber auch ein einzelner sein, der als Held alles durchmachen muss.

Helmuth Schönauer, Antriebsloser Frachter vor Norwegen

andreas.markt-huter - 18.04.2022

helmuth schönauer, antriebsloser frachter vor norwegen„In der Erinnerung ist etwas fixiert / indem eine gültige Fassung abgespeichert ist im Hirn / du denkst nicht mehr daran / dass es eine Alternative gegeben hätte damals / sondern alles ist unverrückbar gültig / wie ein Flugschreiber einer abgestürzten Maschine / der Flug mag zwar ungünstig ausgegangen sein / die Daten freilich sind fix“ (S. 16)

Erinnerungen werden trüb und verschwimmen im Laufe der Zeit. Nur die festgehaltenen Wahrnehmungen fixieren sich und werden zur vergangenen Realität. Lyrisch poetische Erinnerungen und Betrachtungen fixierter Ereignisse befreien den eingefrorenen Blick und eröffnen einen Neuen.