franzobel, einsteins hirnIn Österreich kommen manche erst dann mit Bildung in Kontakt, wenn ihnen bei der Autopsie das Hirn entnommen und die Kopfhöhle mit der Kronenzeitung ausgestopft wird.

Diesen Witz greift Franzobel schelmisch auf, wenn er überlegt, wie man Bildung, Gott und die Welt als Genie-Streich haptisch machen könnte für einen Roman. Der Autor bedient sich dabei der prognostizierenden Faktenmethode, indem er zuerst einen Plot fiktiv entwirft und anschließend die darin vorkommenden Fixpunkte analog abreist, bis daraus eine Art Tatsachenroman formuliert werden kann.

juri andruchowytsch, radio nachtDurch den Krieg werden Vorkriegsromane zu Kriegsromanen. Autor und Publikum können das Rad der Literatur nicht zurückdrehen, beiden sind die Augen inzwischen anders aufgegangen als geplant. Und auch der Roman ist ein anderer geworden.

Juri Andruchowytsch hat seinen Roman Radio Nacht 2021 geschrieben mitten in unserer Vorkriegszeit, die in der Ukraine schon als Vollkrieg empfunden worden ist. Sein Thema ist folglich: Wie kann für unterschiedliche Gesellschaften etwas erzählt werden, was alle zumindest für eine Romanlänge zusammenführt?

stephan alfare, neuneinhalb fingerEin aufregender Roman stützt sich durchaus auf einen großen Gestus, mit dem er in der Hand gehalten wird. Manche Romane sind geradezu für das Lesen „on the road“ geschaffen, man denke nur an die fetten Narko-Thriller aus weichem Papier, die von einer Hand mühselig gehalten werden, während die andere versucht, mit fünf Fingern einen Joint zu drehen.

Stephan Alfare hat seinen Roman „Neuneinhalb Finger“ in den Umschlag-Gestus eines Thrillers gesteckt, der fette, biegsame Buchblock krümmt sich unter dem erhaben gedruckten Cover eines Hinrichtungsstuhls, auf dem ein Zigarrencutter liegt. Dieses Bild führt stracks zur Schlüsselszene des Romans: Dem Schriftsteller und Ich-Erzähler Leon Schillinger wird ein Stück Zeigefinger abgeschnitten, denn er ist in den Augen seines Gegenübers „Schriftsteller und geschwätzig“. (395)

doron_rabinovici, die einstellungIn sogenannten liturgischen Romanen geht es darum, einen bewährten Plot aufs Neue zu erzählen, um die Anhänger dieser Plot-Konstellation darin zu bestärken, dass sie zu den Guten gehören und richtig liegen.

Doron Rabinovici erzählt eigentlich den gesamten Roman durch den bloßen Titel – „Die Einstellung“. In der Doppeldeutigkeit des Begriffes wird klar, dass für einen Fotografen nicht nur die Einstellung an der Kamera entscheidend ist, sondern auch seine persönliche, die mit einer politischen Einstellung einhergehen muss.

friedrich hahn, liebe störtDie besten Erzähler sind jene, die am Sterbebett liegen. Sie brauchen niemanden mehr zu beeindrucken und nichts mehr zu schönen. Sie können das Leben abrechnen, auch wenn sie es oft falsch boniert haben.

Friedrich Hahn erzählt aus einer verrückt-frechen Position heraus. Sein Ich-Erzähler ist gerade gestorben und räsoniert „zum Ausgeistern“ über sein Leben und wie das so ist, bis der Leichnam endgültig entsorgt ist. Sein letzter Satz heißt „Liebe stört“ und ist offensichtlich wohl vorbereitet, wie alle diese berühmten Sätze von „mehr Licht“ bis hin zu „mehr nicht“.

christian futscher, statt einer mütze trug ich eine wolkeJeder Roman lebt davon, dass er mit den Wörtern mehrdeutig umgeht. Schließlich geht es bei jedem Begriff um eine vage Gedankenbewegung. Wenn beispielsweise etwas am Kopf sein soll, ist es vorerst egal, ob es sich um eine Mütze handelt oder um eine Wolke.

Christian Futscher entwickelt aus diesem Mehrdeutigkeitskult heraus eine eigene Erzählform. Der Ich-Erzähler tritt in die Plot-Stapfens eines Schelms und spuckt eine Pointe nach der anderen aus. Wie bei einem Miststreuer werden die Dungteile gleichmäßig verteilt und spornen die Phantasie zu größtem Wachstum an.

christian schacherreiter, das liebesleben der stachelschweineAuf der Suche nach seiner Identität wird Österreich schon mal mit einem Schloss verglichen, das Jahrhunderte überdauert hat (Tumler, Schloss in Österreich), oder mit einem von der Roten Armee in den Verfall getriebenen Marchfeld-Gütchen (Fritsch, Moos auf den Steinen). In einer gegenwartsbezogenen Deutung bietet sich an, es mit Österreich als Biomüllanlage zu versuchen.

Christian Schacherreiter zeigt diese Österreichische Seele am Beispiel einer ausgeisternden echten „Nazifamilie“ und eines toten Seitenstumpfs der Sozialdemokratie. Beide Ideologien sind als Familiensaga miteinander verknüpft, wie ein Blick in den Vorspann zeigt, wo im Stile von Doderers Merowingern die Stammbäume ohne Kastrationen ausgerollt sind.

franz reisecker, musik und andere geräuscheMehr als Elternhaus oder Schule ist es oft die Popmusik, die als Erziehungsmeisterin das Ruder beim Heranreifen der jeweiligen Jugend übernimmt. Der sogenannte Erziehungsroman des bürgerlichen Realismus ist also zumindest im Österreich des späten 20sten Jahrhunderts dem Pop-Roman gewichen.

Franz Reisecker erzählt die Geschichte des Walter Gump, der vom flachen Land aus immer weiter in das Epizentrum des Zeitgeists vorrückt und Band-Musiker wird, ehe er sich dann abgeklärt in das Schicksal der Unauffälligkeit begibt.

andreas pavlic, die erinnertenWahrscheinlich ist Dollfuß einfach zu klein gewesen, als dass sich die Literatur mit ihm beschäftigen könnte. In der Österreichischen Literaturszene rätselt man schon seit Jahrzehnten, warum der eine Österreicher mit Schnauzer ständig Thema in Aufarbeitungsromanen ist, während man den kleinen katholischen Uniformträger, der das Land in eine formidable Diktatur geführt hat, jeweils elegant thematisch umschifft wird.

Andreas Pavlic liefert mit seinen „Erinnerten“ einen höchst notwendigen Vorstoß, der die zwei Haupteigenschaften eines historischen Romans mustergültig auf den Lesetisch legt. Einmal ist es die Themenwahl, die jeden historischen Roman elementar bewegt, und zum anderen der Erzählstandpunkt mit der Fragestellung: Wie kann ich etwas scheinbar Abgeschlossenes erzählen, dass es offen wird für die Gegenwart?

bojana meandzija_lauf! warte nicht auf michBerichte aus Kriegsgebieten sind mittlerweile wieder fester Bestandteil unserer Nachrichtensendungen. Während die Korrespondenten in ihren Kugelwesten den neuesten Status durchgeben, sind wir Zuseher oft noch mit Kriegen aus dem vorigen Jahrhundert beschäftigt. So ein Krieg dauert mindestens drei Generationen, bis er sich halbwegs im Unterbewusstsein der Opfer beruhigt hat.

Bojana Meandžija ist noch immer mit dem Aufarbeiten des Krieges rund um Karlovac in den Jahren 1991-1995 beschäftigt. Als Motto wird ein Gefangener zitiert, der zittrig eine Rasierklinge zeigt, sie habe ihm das Leben gerettet. Er hätte sich nämlich jeden Tag rasiert, statt sich umzubringen. Und jemand anderer sagt: „Ich räche mich am Bösen, indem ich es verschweige.“