franz kabelka, kubanische krokodileFür das große Tourismus-Spiel werden überall auf der Welt Revolutionen eingefroren wie Dornröschen und später in kleinen Dosen von flanierenden Touristen wachgeküsst. Politik und Konsum leben von Bildern im Netz, die uns Tag und Nacht Ausschau halten lassen, ob wir uns mit passenden Selfies mit irgendwelchen Ikonen dazugesellen könnten.

Für Franz Kabelka sind die Genres Krimi oder Thriller nur nebensächliche Gerüste, um eine Story im Buchhandel unterzubringen. Sein Hauptanliegen ist unterhaltsames Durchstreifen von Kulturen und Lebensmodellen, die wir nur mit Hilfe von Klischeebildern zu kennen glauben.

an marwan, verpuppt„Und woran denkst du?“ – Das Mädchen wurde steif. „An welchen Beruf?“ erklärte er rasch. (20) Sobald Sätze fallen, tun sich Missverständnisse auf. Während sie gesprochen werden, heißt es schon zu erschrecken und sie zurücknehmen. Oder zumindest sie abzufedern, oder nachzufragen, oder abzuwiegeln.
Letztlich entsteht ein Satzbrei vor dem Mund und erstarrt. Dahinter hat sich ein Gedanke verbarrikadiert und verpuppt.

Ana Marwan erzählt rätselhaft klar und verwoben. Am Cover steht Verpuppung. Roman. Als Leser merkt man gleich, dass es sich um etwas handelt, was man nicht nacherzählen kann, und was folglich keinen scharfen Plot hat. Die vorgeschobene Erzählerin weiß, dass der Leser ab und zu einen Suspense braucht.

Ilse Kilic und Fritz Widhalm, Nimm Dich in Acht vor dem lobenden MundDas Genre Verwicklungsroman behandelt mehrere Handlungsstränge, die an sogenannten Umsteigeknoten einen Wechsel in eine neue Erzählung ermöglichen. Der österreichische Verwicklungsroman gleicht ziemlich genau dem Netz der österreichischen Bundesbahnen, das heißt, er kann von einer Person mit einem einzigen Ticket innerhalb von ein paar Halbtagen abgefahren werden.

Ilse Kilic und Fritz Widhalm pflegen den Verwicklungsroman seit einem Vierteljahrhundert. Dabei treten Autorin und Autor vorgeblich unter dem Klarnamen auf, suchen aber ständig mit ihren alter Egos Kontakt, die sich Jana und Naz nennen. Ständig tauschen sie Rollen und Perspektiven, und wenn sie zwischendurch seltsam stimmig in einer ähnlichen Situation zu sitzen kommen, nennen sie diesen paradiesischen Zustand Janaz.

greta lauer, gedeih und verderbBrutalen Begriffspaare wie Gedeih und Verderb kann man nur mit noch härteren Gegensätzen begegnen, will man als Individuum seinen persönlichen Touch in die Diskussion des Unglücks einbringen.

Bei Greta Lauer fügt die Heldin dem Titel „Gedeih und Verderb“ gleich ein adäquates Handlungspaar hinzu: Schau – Nimm! Diese beiden Befehle strömen auf eine Ich-Erzählerin ein, die nichts anderes im Sinn hat, als sich in der Welt zurechtzufinden und einen Ausgang zu finden aus dem Dorf-Labyrinth, das sich wie enthemmte Darmschlingen um ihre Psyche gelegt hat.

carolina schutti, meeresbriseÜblicherweise erklären Erwachsene in infantiler Sprache den Kids, wo es langgeht. Sie verwenden dazu Bilderbücher und Kurzgeschichten und hoffen, dass die Kids während des Vorlesens eingeschlafen sind, ehe eine Lösung eines Problems zur Sprache kommt.

Carolina Schutti dreht im Roman „Meeresbrise“ den Erzählspieß um, und bringt die Erwachsenen ins Schwitzen, weil keine Lösung hergeht. Niemand schläft nämlich ein, wenn zwei Kids erzählen, was sie alles durchmachen müssen, bis sie formatiert und für den gesellschaftlichen Gebrach genormt sind.

gerald murnane, inlandZwischen Ungarn, South Dakota und Australien liegt Gras. Im Gras wird das Einfache komplex und das Komplexe einfach. Wann immer Helden vom Schreibtisch aufschauen und hinausblicken ins Freie, sehen sie Gras. Der vollkommene Roman besteht aus Gras.

Gerald Murnanes „Inland“ duckt sich vor der Bezeichnung Roman, weil er sonst perfekt wäre. Und wie perfekt „Inland“ ist, zeigt eine Nachbemerkung, wonach der Autor ein Vierteljahrhundert nach dem Entstehen 1988 alles noch einmal durchliest und feststellt: Es ist alles ausreichend erklärt und mannigfaltig genug dargestellt. Wenn etwas nicht verstanden wird, liegt es am Leser.

gabriele weingartner, léon saint clairEin Flaneur ist an jedem Augenblick am Höhepunkt! – Diese potente Zuschreibung für einen Helden, der sich quer durch Jahrhunderte und Kontinente bewegt, ermöglicht es ihm, die jeweilige Gegenwart in jener Stimmung aufzunehmen, in der wir einen gelungenen Spaziergang in den Kies setzen.

Gabriele Weingartner hat bereits im 2019 erschienenen Roman „Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe“ den 1780 geborenen Helden zu den Napoleonischen Kriegen, ins Bangkok des frühen 20. Jahrhunderts und auf die psychoanalytische Couch der Zeitlosigkeit geschickt. Für die logische Vorstellung lebt der kleinwüchsige Sympathieträger mit seiner Freundin Konstanze in Berlin.

markus köhle, das dorf ist wie das internet - es vergisst nichtsWas kann ein Roman, was das Internet nicht kann? - Er kann von einem analogen Standpunkt aus die digitale Welt „verorten“.

Markus Köhle hat die Fähigkeit, Literaturtheorie als Unterhaltung auszugeben, indem er große Thesen auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft. Und er scheut sich auch nicht, die sogenannte Tagesverfassung als größtes denkbares Korrektiv für alle kulturellen Unternehmungen anzusprechen. Für die beiden Schlüsselbegriffe Unterhaltung und Tagesverfassung gibt es keinen besseren Nährboden als den Poetry Slam. Diesen hat er quasi im Alleingang in Österreich eingeführt und hält ihn durch permanentes Nachjustieren auch nach zwanzig Jahren noch ajour.

simon konttas, trautes heimNichts ist literarisch so schwer zu handeln wie das, was alltäglich auf dem Erlebnis-Teller liegt und als normal gilt. „Das traute Heim“ streckt als pure Formulierung sofort die semantischen Greifarme aus und lullt jene ein, die an der Oberfläche dieses Bildes bleiben.

Simon Konntas nennt seinen raffinierten Roman über die Glücksvorstellungen einer angehenden Malerin ungeschützt „Trautes Heim“. Damit spricht er die Lesenden unverblümt an, damit sie selbst die Glücksvorstellungen abrufen, die sich seit Kindheitstagen in der Spielecke der schönen Seele aufgestaut haben, ehe er mit einem schlichten Plot die gängigen Muster aus dem Lot bringt.

evelyn andergassen, atlantikpassageEinen Südtirol-Roman erkennt man ohne Zweifel daran, dass im ersten Absatz jemand auf Italienisch einen Kaffee bestellt. Mit dem simplen Ausruf „Espresso“ oder „Cappuccino“ ist dann klargestellt, dass die Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden ist und Bozen, was die Multikultur betrifft, es locker mit der EU-Hauptstadt Brüssel aufnehmen kann.

Evelyn Andergassen lockt die Leser also mit dem beherzten Ausruf „Cappuccino“ in den Roman, und solcherart eingespeichelt werden wahrscheinlich manche zuerst selbst etwas trinken, ehe es in den Roman „Atlantikpassage“ hineingeht.