thomas antonic, united states of absurdiaDer Volksmund formuliert bei Größenordnungen relativ klar, sofern sich Größe überhaupt vorstellen lässt. Wenn etwas abnormal groß ist, sodass es sich kaum noch erzählen lässt, spielt es in Amerika. Und alles, was darüber hinausgeht, spielt in Absurdia. Dabei ist die Grenze zwischen Amerika und Absurdia eine weiche, obwohl sie ähnlich hart gedacht ist wie jene zwischen Amerika und Mexiko.

Thomas Antonic beginnt sein Epos mit einem perfekten Eingangsbild: Auf einem Western-Heft, das sich „Horse Tales“ nennt, wird eine Phantasie-Ausgabe aktuell dem 15. Jan. – 15. Feb. 2022 zugeordnet.

andreas niedermann, schreibenDie echtesten Geschichten sind immer jene, wo jemand das Leben wegwirft, um zu schreiben, und es dadurch erst recht findet.

Andreas Niedermanns Roman vom „Schreiben“ ist letztlich die Geschichte eines permanenten Ein- und Aussteigers im Literaturbetrieb, am ehesten mit einem Schaffner zu vergleichen, der seinen eigenen Zug verpasst. Aber am Schluss erweist sich das Ziel als persönlicher Kopfbahnhof, der schon für die nächste Ausfahrt bereitsteht, kaum dass man in ihn eingefahren ist.

stefan soder, cafe seligWer rechtzeitig aus dem Studium aussteigt, kann immer noch hochglänzender Barkeeper oder Bundeskanzler werden.

Stefan Soder siedelt seinen Roman „Café Selig“ um ein studentisches Quartett an, das betroffen feststellt, dass man den Sinn des Lebens nicht inskribieren kann. Die Location Bar erweist sich als gesellschaftliches Labor, worin geforscht, getestet, resigniert und resümiert wird. In Soders früheren Romanen haben Club (2015), Simonhof (2017) oder Tour (2019) als Orte der Auseinandersetzung fungiert.

felix kucher, vegetarianerEin Messias erscheint meist zweimal: Einmal als Guru mit Haut und Haar in der Zeitgeschichte und ein zweites Mal als literarische Figur eines Religionsstifter-Romans.

Felix Kucher kümmert sich mit seinem Roman „Vegetarianer“ um den Meister und Religionsstifter Karl Wilhelm Diefenbach, der in den 1880er Jahren als kultischer Maler halb München mit seiner Mission auf den Kopf gestellt hat.

Der Ausdruck „Vegetarianer“ ist zu dessen Lebzeiten noch halbwegs unbelastet zu verwenden, die beiden ihm zur Seite gestellten Lebensformen „Nudismus“ und „freie Liebe“ fordern freilich schon damals die Gerichte heraus. Der Maler muss betrübt feststellen, dass er die eine Hälfte seines Lebens am Gericht und die andere auf Wohnungssuche verbringt.

georgi gospodinov, zeitzufluchtWenn es sich von dieser Welt schon nicht horizontal-geographisch fliehen lässt, vielleicht sollte man es vertikal-chronologisch versuchen. Warum nicht in die Zeit selbst fliehen, statt aus ihr heraus?

Georgi Gospodinov erzählt in seinem über den Kontinent gespannten Roman „Zeitzuflucht“ von der Magie der Vergangenheit als der eigentlichen Zukunft. Es ist wahrscheinlich alles nur eine Frage der Richtung, „wer sich in der Vergangenheit umdreht, sieht die Zukunft“.

alois hotschnig, der silberfuchs meiner mutterGermanisten kümmern sich um die Autoren, Rezensenten um die Leser. Bei einem Meisterwerk treffen beide friedlich aufeinander und besingen das Kunststück von vorne und hinten.

Alois Hotschnig ist ein versöhnender Dichter, der die oft seltsam schrägen Ansprüche der Germanisten mit den geraden Bedürfnissen der Leserschaft zusammenbringt. Seine solitären Bücher zeigen, dass sich ausgehungerte Lesende zum Buch meist noch etwas hinzu wünschen, ehe sie mit der Lektüre beginnen.

christine hochgerner, damals ist nicht mehrNiederschmetternd sind immer jene Romane, die beinhart den Verlauf von „Schicksal“ erzählen. Für die Leser besteht die Belohnung schließlich in der Ermunterung, dass der Sinn des Lebens im Aushalten besteht. Für dieses kleine Motivationslicht opfern literarische Heldinnen schließlich ihr Leben.

Christine Hochgerner zeigt in ihrem Roman „Damals ist nicht mehr“, wie die neunzigjährige Hertha mitten in der Pandemie noch einmal aktiv wird. Sie muss es nämlich irgendwie hinkriegen, dass man ihr Haus entkernt und sie im Pensionistenheim erhobenen Hauptes einziehen kann.

rudolf habringer, leirichs zögernEine besonders spektakuläre Art, sein Leben in Aufruhr zu bringen, ist dessen Sedierung durch wohl einstudierte Handgriffe des Alltags und Rituale, die regelmäßig ins Leere führen.

Rudolf Habringer stellt einen Helden vor, der mitten in seiner eigenen Ordnung zu versickern droht. Gregor Leirich ist Zeitgeschichtler an einem Universitätsinstitut, wo sich selbst die Gegenwart bereits in eine vorsortierte Materie verwandelt hat, sodass man ohne Aufregung daran herumforschen kann. Der Schwerpunkt liegt ohnehin bei der Produktion von Bachelors, wodurch der Lauf der Geschichte für die nächste Generation gesichert zu sein scheint. Das alles entscheidende Wort heißt „vorsatzgemäß“. Der gute Historiker steht früh am Morgen auf und hat einen Plan, den er nach seinen Vorstellungen als Tagwerk abarbeiten wird.

egyd gstättner, leopold der letzteKann man aus dem Jenseits heraus einen Roman schreiben? ‒ Diese Frage beschäftigt das Publikum schon seit Jahrhunderten. Die Sache ist so fragwürdig heiß, dass man nicht von ihr ablassen kann, ehe der Roman fertig gelesen ist.

Egyd Gstättner operiert mit der These, dass jeder Autor stirbt, wenn er aus seinem Text heraussteigt. Nach der Niederschrift löst sich daraus sein Geist, dieser segelt über dem Schreibtisch und kann so mitverfolgen, wie er für tot erklärt und sein Werk zu einem Nachlass wird.

castle freeman, herren der lage„Wir leben hier. In diesem Tal. Wir sind ebenfalls keine Idioten. Und wir langweilen uns nicht. ‒ Manchmal vielleicht ein kleines bisschen.“ (120) Diese Beschreibung eines entlegenen Landstrichs von Amerika ist vielleicht das genaue Gegenteil von Tirol und heizt dadurch unsere Sehnsucht an.

Castle Freeman zeigt in seiner kleinen „Vermont-Saga“, wie die Idylle unversehrt bleibt, weil sich die Menschen weigern, das Schlimme zur Kenntnis zu nehmen. In einem abgelegenen Tal in Vermont sind zumindest die Rechtsvertreter, der alte und der aktive Sheriff, „Herren der Lage“.