michel jean, kukumWenn man die großen Erzählungen von Mutter Erde auf sich einwirken lässt, so sind die Geschichten oft wie das eigene Leben aufgebaut. Viele von uns haben eine unversehrte Kindheit, eine jähe Aufbruchsstimmung und das Desaster von Habgier und Wachstum erlebt, ehe wir jetzt alt und kaputt auf die Erde schauen und seufzen, dass wir deren Untergang gerade nicht mehr erleben werden.

Die meisten unserer Jahrgänge haben das Lesen gelernt mit scheinbar unversehrten Geschichten von Robinson Crusoe oder Lederstrumpf. Wir Leser mussten alt werden, um nachzulesen, wie die Geschichte von der Eroberung und Verwüstung der Natur wirklich erzählt werden muss.

andrej platonow, der makedonische offizierDie Erde entwickelt sich entweder zu einem reinen Kristall, der Wasser spendet, oder der Erdball verliert sich in einer giftigen Blase.

Andrej Platonows Kernsatz über die Entwicklung der Sowjetunion wird in den 1930er Jahren unter Stalin nicht gerade mit Wonne aufgenommen. Der Autor wird sofort geächtet, verliert seine Wohnung und Zulassung als Schriftsteller. In seinem Brotberuf als Bewässerungsingenieur hat er täglich mit Verhaftung zu rechnen. Und als er selbst schon fertiggemacht ist, geht die Verfolgung auf seinen Sohn über, der daran stirbt.

manfred mixner, anwesenWahrscheinlich kann Glück nur auftreten, wenn es zuerst als literarisches Bild formuliert und später als echtes Leben ausgestaltet wird.

Manfred Mixner ist hoffentlich dieses Glück zuteilgeworden. Jedenfalls formuliert er das Bild vom Glück in seiner Erzählung „Anwesen“ zuerst als Waldnotiz, um es anschließend mit Notizen aus dem Leben zu untermauern und befeuern, ehe er das alles noch einmal in einem ernüchternden Nachwort auf null einschleift.

ulrike kotzina, jenseits des abgrundsTotalitäre Systeme vereinnahmen die Literatur seit jeher durch Sanktionen, Marktbereinigungen und Ehrungen. Am Beispiel der DDR-Literatur lassen sich diese Maßnahmen aus heutiger Sicht nüchtern beschreiben. Es gibt freilich auch sublimere Formen des Totalitarismus, etwa wenn in einem Land nur mehr Bergbau, Digitalisierung oder Tourismus das Sagen haben. Diesen monumentalen Wirtschaftsformen ist eigen, dass sie in Sprache, Promotion und Leitbildern die Literatur kalt übernehmen und deren Bücher und Helden zu Werkzeugen des Regimes machen.

In Tirol ist beispielsweise das öffentliche Leben vollends dem Tourismus unterworfen, so dass es kein Wunder ist, wenn auch die Literatur mittlerweile mehr oder weniger freiwillig zu einer Tourismuseinrichtung geworden ist.

ewald baringer, der zaunprinzPrinz kann ein hartes Schicksal sein. Ein besonders „prinziges“ Schicksal hat in der Gegenwart der englische Thronfolger ausgefasst, der mit großen Ohren gegen sein Leben in der Warteschleife ankämpft.

Ewald Baringer stellt in seinem Roman ein triviales Prinzen-Schicksal aus unseren Breitengraden vor. Und wer könnte besser für diese undankbare Aufgabe geeignet sein als ein Germanist, der ein Leben lang mit nichts fertig wird? Natürlich sind es auch beim Germanisten widrige Umstände, die ihn an seiner undefinierten Aufgabe scheitern lassen, aber als halbgebildeter Mensch weiß er, dass der Zaunkönig ein kluges Tier ist, das in der Fabel schon mal zu einem Zaunprinzen mutieren kann, indem er sich die Welt schönredet und auf große Missionen pfeift.

hannes hofinger, nasca-healingDer Tiroler Menschenschlag setzt sich generell aus jenen Elementen zusammen, die in touristischen Saison-Prospekten geoffenbart werden. Darin werden Begriffe hochgehalten wie: Schmalz, Almvieh, Brunft, Hormone, Schlitzohr, hinterfotzig, überirdisch oder bodenständig. – Ein Tiroler Roman muss das alles berücksichtigen, was ihn zum schwierigsten Genre der Literatur macht.

Hannes Hofinger nennt sein Projekt des totalen Tirolromans „Nasca-Healing“. Dabei wird gekonnt eine Erzählstaffelei aufgestellt, die Unwahrscheinliches, Reales, Unwirkliches und Geträumtes in Gestalt eines Multi-Hybrids zum Ausmalen bringt. Die Genres Krimi, Schnulze, Romanze, Heimat- und Heiler-Roman sind dabei unauffällig ineinandergesteckt, sodass man bei jedem Umblättern irritiert ist, welche Dramaturgie nun schon wieder am Werk ist.

alfred paul schmidt, anderswoAls erfolgreiche Erzählstrategien gelten seit Jahrhunderten das Labyrinth und der Spaziergang. Im Labyrinth geschieht alles gleichzeitig und aus der Drohnenperspektive sieht man die Ausweglosigkeit, der Spaziergang hingegen wickelt sich chronologisch ab, der Sinn entsteht in einzelnen Schritten, auch wenn das Ziel vielleicht nie erreicht wird.

Alfred Paul Schmidt nennt seinen Spazier-Roman „Anderswo“, denn der Erzähler hat immer den Eindruck, dass es sich überall anderswo abspielt, nur nicht gerade im Nun und Jetzt bei ihm. Diese Einschätzung führt in ein weites Feld von Themen, die alle gleich logisch oder wichtig sind, wenn man sie nur im Kopf aufbereitet und währen des Gehens aus sich herauslässt.

phil klay, den sturm erntenAm Cover jagen acht Kampfjets einen Vogel, der aus dem Bild zu flüchten trachtet. Die blauen Flugkörper huschen über einen gelben Grund, und beides erinnert an die ukrainische Fahne, die stets an der Kriegsgrenze auf und ab getragen wird.

Phil Klay nennt seinen Kriegsweltroman „Den Sturm ernten“. Diesen hat offensichtlich schon jemand erfolgreich gesät. Der Schauplatz ist jene Welt, die eine Weltmacht für ihre Kriege braucht, denn über allen Strategien steht ein Zitat des französischen Staatsmanns Léon Gambetta: „Um eine große Nation zu bleiben oder um eine zu werden, muss man kolonisieren.“ (473)

joze javorsek, primoz trubarDamit sich ein Staat gegenüber anderen Staaten legitimieren kann, braucht er neben Fahnen, Verfassung, Verteidigung und Währung auch den Nachweis, dass er lesen und schreiben kann. Ursprünglich mussten nur Kirchenleute und Kriegsherrn nachweisen, dass sie zumindest Urkunden lesen können, in demokratisch organisierten Gebilden ist es unumgänglich, dass es auch eine Literatur gibt, die aus dem Volk für das Volk gemacht wird.

Wie dringend dieser Nachweis für einen neuen Staat ist, merkt man beispielsweise bei den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Zwar brodelte es als Nationalismus schon länger im Vielvölkerstaat, aber für die Unabhängigkeit war immer der Nachweis einer eigenen literarischen Identität vonnöten.

thomas sautner, die erfindung der weltSchöpfungsgeschichten haben meist einen Prolog, in dem das Wesentliche erzählt wird. Bei der Erschaffung der Welt geht es nämlich wie in der Genesis darum, dass zuerst nichts ist, und dann durch einen Erzähltrick plötzlich die komplette Welt eruptiert. In der Bibel funktioniert das mit dem Satz vom „Anfang war das Wort“, beim Faust mit der Sonne, die nach alter Weise kreist, im Taoismus beginnt die Welt als mathematische Formel, wonach die Eins die Zwei hervorbringt.

Thomas Sautner hat sich für die „Erschaffung der Welt“ ebenfalls einen funktionierenden Erzählhandgriff einfallen lassen. In der Welt der Stipendien- und Auftragsliteratur wird die Literatur erschaffen, indem plötzlich Kohle auf das Konto der Autoren kommt und vielleicht noch die Durchsage, wie viel Zeichen der abzuliefernde Text haben soll.