Herbert Rosendorfer, Martha. Von einem schadhaften Leben
In entlegenen Landstrichen herrschen unabhängig von den jeweiligen Regierungen in den Zentren völlig autarke Geister, die in ihrer Hilflosigkeit von den Bewohnern Dämonen genannt werden.
Herbert Rosendorfer stellt in seinem letzten, beinahe vollkommen fertig gewordenen Roman „Martha, Von einem schadhaften Leben“ eine kluge These auf. Während wir in der Geschichtsschreibung immer von politischen Regimen und Quell-erfassten Protagonisten sprechen, regieren in der Peripherie oft ganz andere Mächte. Im Südtiroler Vinschgau sind dies die steinernen Mächte, die unbeirrt von der jeweils gültigen Landessprache ihre Untertanen in der Kunst des Überlebens unterweisen.
Ein Korridor gilt in Tirol als etwas besonders Exklusives und Wertvolles, Jahrzehntelang sind beispielsweise die Osttiroler mit einem Korridorzug unter Ausschluss der Realität von Lienz nach Innsbruck gefahren, ehe man dem Zug seinen Korridor-Charakter genommen hat.
Obwohl man Land und Leuten von Tirol letztlich alles zumutet, ist man doch immer wieder überrascht, wenn sich in der Literatur ein Fall zu einem Weltproblem aufschaukelt.
Spuren dünnen immer wieder aus, verlaufen im Weiß des Sehfeldes oder ändern die Spurweite. In einem Gedichtband laufen diese Fährten sporadisch vor dem Leser ab, zwischendurch ist das Ziel sofort einsichtig, dann wieder verliert es sich, um vielleicht gar nicht mehr aufzutauchen.
Im Essay lehnt sich der Autor bei offenem Fenster mit seinen Thesen kühn hinaus in den Fahrtwind. In einer Gesellschaft, die vollklimatisiert durch die eigene Gedankenwelt reist, ist das mittlerweile zu einem seltenen Ereignis geworden.
Im Volksmund heißt es, man muss dreimal nach Innsbruck, um es in seiner Belanglosigkeit zu kapieren. Der weltberühmte Theologe Karl Rahner ist tatsächlich dreimal nach Innsbruck, einmal um von den Nazis vertrieben zu werden, ein zweites Mal um vor dem Konzil von den eigenen Leuten ruhig gestellt zu werden, und letztlich um zu sterben. Karl Rahner hat dabei sicher mehr für Innsbruck getan als umgekehrt.
Wie eine Gesellschaft tickt, kann man oft an ihrem Umgang mit sich selbst erkennen. Wie sorgen sich die Menschen um sich selbst? Welche Hilfsmittel verwenden sie? Wie schätzen sie ihre pflegenden Hände und Köpfe?
Die heutigen Kids sind vom Revolutionsjahr 1968 etwa so weit entfernt, wie es die die damaligen 68er Revolutionäre vom Spartakusaufstand 1919 in Berlin waren. So eine Zeitachse muss man sich durch den Kopf legen, wenn man einen Roman über das Jahr 1968 halbwegs einordnen will.
Es gibt keine absoluten Wahrheiten, alles, was wir für wahr halten sind letztlich mehr oder weniger geschickte Arrangements.
Ein kluges Buch wendet sich an die Intelligenz des Lesers und bietet so nebenbei seine Freundschaft an. Wenn das Buch als abgerissener Konsumartikel mit der Brechstange der Werbesemantik auftritt, wird man als Leser vorsichtig.