David Honigmann, Ein Ort, an dem seit Tagen kein Wunder geschah
Fahndungsfotos sind dann am wirkungsvollsten, wenn darauf nur die gröbsten Details scharf zu sehen sind und alles andere dem Fahnder überlassen bleibt.
Etwas Ähnliches ist David Honigmann mit seinem Porträt der Alpenstadt „Stöck“ gelungen. Zwar ist scheinbar nichts polizeischarf erzählt, dennoch aber ergibt der Roman hinter der Netzhaut des Lesers ein dichtes Porträt der Stadt Innsbruck, die mit all den kauzigen und wahnsinnigen Bewohnern mit klaustrophoben Tiefgang perfekt beschrieben wird.
Wo ist die toteste Gegend einer Stadt? – Meistens dort, wo nicht einmal mehr Einheimische wissen, wie die Straßenzüge heißen.
„Ich werde, wenn’s hoch geht, noch zwanzig Jahre lang klettern gehen können. In jedem Jahr gibt es vielleicht zehn solcher Klettersonntage wie den verpatzten gestrigen. Zehn mal zwanzig sind zweihundert. Was sind zweihundert schöne Sonntage? Nichts, ein Wischer übers Gesicht. Ein Glück, dass ich in Innsbruck zur Welt gekommen bin, wo die Berge vom Stadtrand emporwachsen, oder besser – die letzten Häuser schon droben auf den Bergen stehen.“ (25)
Bestseller aus vergangenen Zeiten vermitteln bei der aktuellen Lektüre dieses spannende Knacksen, wenn die Patina durch heftigen Lichteinfall aus der Gegenwart aufspringt. Heinrich Kliers Bestseller aus dem Jahre 1964 liest sich nach vierzig Jahren wie eine Gebrauchsanweisung zur Eroberung der Alpen.
Ein Gedichtband wie geschaffen für das Internet. Da wechselt das lyrische Ich wie ein Surfer in den Wellen des Internets von einem Thema und von einem Ort zum nächsten, um schließlich ganz unverhofft mit neuer Maske wieder zurück zu kehren. Da heißt es anschnallen und festhalten.
„Kurze Schnitte“ sind eher eine Erzählmethode als ein Buchtitel, man denkt sofort an Robert Altmanns „short cuts“, welche in der Filmkultur für Aufsehen sorgen, oder aber an die letzten Erzählungen Raymond Carvers, die 2002 auf deutsch ebenfalls mit dem Titel „Kurze Schnitte“ erschienen sind.
Dramatisch schön ist aber auch das Vokabular, das Tourengehern zur Verfügung steht, wenn auf einen gelungenen Aufstieg ein geglückter Abschwung erfolgt ist.
Kalendergeschichten sind verlässlich, weil sie in prägnanter Form wieder kommen wie die Jahreszeiten, und sie sind aufregend wie die Monate, in denen sie geschehen.
Schön eingefärbt in den Saisonfarben ist in Tirol tatsächlich ständig etwas los. Dabei gehen fast alle Bräuche auf das Treiben der Kirche im Jahreskreis zurück, die gottlosen heidnischen Sachen sind von der Kirche bravourös ausgerottet worden, und den Rest hat der Josephinismus besorgt.
Zu Beginn steht so etwas wie die Schöpfungsgeschichte der Alpen, sie sind tatsächlich steinalt und Zeit spielt bei ihnen keine Rolle. "Dein Jahrhundert ist meine Sekunde" (11) heißt es ehrfurchtsvoll bei Cees Nooteboom, der vor einer Felswand in die Knie geht.