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Kurt Lanthaler, Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini

h.schoenauer - 19.06.2024

kurt lanthaler, vorabbericht in sachen der zona cesariniEine Biographie wird umso genauer, je mehr Abschweifmöglichkeiten und Seitenthemen sich entlang des Heldencharakters entwickeln.

Kurt Lanthaler gilt als Meister der „Delta“-Beschreibung. Im Roman „Das Delta“ (2007) verliert sich ein Held im Zwielicht des Po-Deltas, feste Materie geht in Schlamm über, Lungenatmung weicht über Kiemen-Konstrukte aus, der Erzählfaden geht verloren, während sich Geschichten um einen schwimmenden Erzählstandpunkt versammeln.

Im „Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini“ bringt Kurt Lanthaler diese vage Erzähllage zur Perfektion, indem er zwischen Argentinien und Italien, den Zauberkünsten Zirkus und Fußball, und den fixen Heldenposen und entgleisten Fan-Gesten einen „Vorbericht“ installiert. Das Genre Roman lässt er dabei nur gelten, wenn es „hinten offen bleibt“, wie man so schön über das literarisierte Leben sagt.

Willem Elsschot, Tschip

h.schoenauer - 17.06.2024

willem elsschot, tschipSelbst ein Klassiker muss ununterbrochen gepflegt und gegen das Vergessen gebürstet werden. Aufwändig wird diese Pflege, wenn es dazu einer Übersetzung bedarf, die den Ansprüchen von Zeitgeist und Sprachentwicklung entspricht.

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale, um diese zu durchkämmen auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot.

„Tschip“ ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt, zu Hause in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal zu Hause ausstreckt, wird er von einer seltsamen Störung des Hausfriedens heimgesucht.

Ilse Krüger, Das Rotzmensch

h.schoenauer - 22.05.2024

ilse krüger, das rotzmenschUmgangssprachlich gilt schon die Bezeichnung „Das Mensch“ als ziemlich abwertend, die Steigerung in „Das Rotzmensch“ kann als Inbegriff für Verachtung betrachtet werden.

Ilse Krüger stellt ihre autobiographische Darstellung vom Heranwachsen in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter den alles vernichtenden Fluch „Rotzmensch“. Diesen Ausdruck verwendet die Oma der Heldin bei jeder Gelegenheit, um das heranwachsende Kind zu demütigen. Von diesem wird sie mit der vielsagenden Abkürzung „O“ bezeichnet, was vermutlich eher auf Oasch hindeutet, als auf die Marquise von O., obwohl im Roman alle ziemlich belesen sind und sich fallweise gepflegt ausdrücken.

Esther Bockwyt, Woke. Psychologie eines Kulturkampfs

andreas.markt-huter - 15.05.2024

esther bockwyt, woke„Der zentral vorgebrachte Anspruch der Bewegung, Diskriminierung und Unterdrückung von bestimmten Gruppen abbauen zu wollen, macht Wokeness auf den ersten Blick unangreifbar und attraktiv. Ihre Appelle nach Gerechtigkeit, Diversität oder Antirassismus sind positiv besetzt. Das macht ihr destruktives Potenzial viel schwieriger zu erkennen als das anderer radikalisierter Orientierungen.“ (S. 9)

Die sogenannte „Woke-Bewegung“ hat sich von ihrem Schwerpunkt an den Universitäten immer mehr in die breite Öffentlichkeit bewegt. Welche Theorien, Inhalte und Forderungen sich unter dem breiten Label „Woke“ finden lassen, was die psychologischen Hintergründe für die zunehmend aggressiver auftretenden Gruppierungen sind und welche Erklärungen und Hilfen die Psychologie dazu bieten kann, steht im Mittelpunkt des informativen Sachbuchs.

Hans Platzgumer, Großes Spiel

h.schoenauer - 08.05.2024

hans platzgumer, großes spielWir feiern die verrücktesten Jubiläen, ohne oft genau zu wissen, welche Katastrophen und Kämpfe da dahinterstecken. Vor genau hundert Jahren, am 1. September 1923, wurde Tokio durch Brand und Erdbeben vernichtet. In einer dieser Erdbebenspalten verschwand auch das bisherige Regierungssystem und führte zu einem brutalen Machtkampf im Schatten des Kaisertums.

Hans Platzgumer greift diesen historisch und geographisch entlegenen Katastrophenfall auf, um durchzuspielen, wie sich Epochen an einer politischen Verwerfungskante reiben und Verwüstung anrichten.

Tom Holland, Herrschaft - Die Entstehung des Westens

andreas.markt-huter - 03.05.2024

tom holland, herrschaft„Mein Buch untersucht, wodurch das Christentum so subversiv und revolutionär wurde; wie vollständig es die Grundhaltung der lateinischen Christenheit imprägnierte; und warum in einer westlichen Welt, die häufig ein so kompliziertes Verhältnis zu religiösen Ansprüchen hat, so viele ihrer Instinkte nach wie vor – im Guten wie im Schlechten – durch und durch christlich sind. Kurz: Es geht um die größte Geschichte aller Zeiten.“ (S. 27 f)

Tom Holland geht der überaus interessanten Fragestellung nach, wie eine Religion, deren zentrale Bezugsperson als Verbrecher verurteilt und auf grausamste Weise ums Leben gebracht wurde, eine dermaßen prägende Wirkung auf die Welt entwickeln konnte. Dazu werden die zentralen Strömungen des christlichen Einflusses auf die Entwicklung globaler Wertvorstellungen bis in die Gegenwart nachgezeichnet.

Thomas Podhostnik, Der Spatzenkaiser

h.schoenauer - 29.04.2024

thomas podhostnik, der spatzenkaiserFür gewöhnlich läuft das Leben so dahin, ehe dann vielleicht ein Spatz vom Himmel fällt, um dem Ganzen eine Überschrift zu geben.

Thomas Podhostnik lässt seinen Helden Kaj vorerst einmal drei Seiten lang durch die Wüste streunen, ehe der sprichwörtliche Vogel vom Himmel fällt und dem Roman seinen Titel gibt: „Der Spatzenkaiser“. Dieser Vorfall ist mit einer Binsenweisheit verknüpft. „Auch ein Vogel musste sterben, es war  nur konsequent, wenn es in der Luft geschah.“ (6)

All dies geht dem Helden Kaj durch den Kopf, als er sich auf den Weg in ein Roadmovie macht, dabei aber nicht vom Fleck kommt. Für ein Roadmovie braucht es einen Fluchtgrund, geographische Ziellosigkeit, einen täglich neu zu erweckenden Move und eine Sehnsucht, der man vergeblich nachjagt.

Martin Mandler, Kleiner Vogel Glück

h.schoenauer - 17.04.2024

martin mandler, kleiner vogel glückWenn die Vögel aussterben, erfahren Romane mit dem Wort Vogel im Titel umso heftigere Aufmerksamkeit.

Martin Mandler nennt seinen Roman über einen modernen „Hans im Glück“ nach jener Volksweisheit, wonach das Glück ein Vogerl sei, das sich mal hier, mal dort niederlässt. Dieses sprunghafte Herum-Navigieren wie ein Vogerl ist auch das Erzählmuster, das dem Roman zugrunde liegt. Ein Glücksforscher im Hintergrund schiebt diverse Figuren durch das Tableau der jüngeren Zeitgeschichte.

Kern der Geschichte ist ein Hans im Glück aus dem vorigen Jahrhundert, der im Ersten Weltkrieg als heimisches Bauernkind an der Dolomiten-Front eingebunkert ist in einer grandiosen Landschaft. Von dieser kann er sich nur unter Lebensgefahr eine Scheibe abschneiden, wenn er heimlich ins Freie kriecht in der Hoffnung, dass er vom Feind nicht gesehen wird. Aber Krieg hin oder her, wenn man es schafft, alles auszublenden bis auf die ikonenhafte Schöpfungslandschaft, dann stellt sich sogar etwas wie Glück ein, während man dies alles sehen und in Worte kleiden darf.

Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis

andreas.markt-huter - 29.03.2024

rainer mausfeld, hybris und nemesis„Vor unendlich langer Zeit, in längst vergangenen Zeiten, die später als die goldene empfunden wurde, lebten die Menschen in Eintracht und Zufriedenheit. Vereinzelung oder gar ein Mehrhabenwollen auf Kosten anderer waren ihnen fremd. Als jedoch einige wenige anfingen, sich Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft zu verschaffen, nahm die Geschichte ihren Lauf.“ (S. 10)

In den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Macht und Gewalt setzt Rainer Mausfeld die Einsicht, dass Macht und Gewalt, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, in einer Gesellschaft eine zerstörerische Macht entfalten können. Schon früh haben Gemeinschaften und Gesellschaften versucht, diese von Einzelnen ausgehende rohe Gewalt durch geeignete Schutzinstrumente zu bändigen, was zur großen Leitidee der Demokratie geworden ist.

Olaf B. Rader, Kaiser Karl der Vierte - Das Beben der Welt

andreas.markt-huter - 20.03.2024

olaf b. rader, kaiser karl der vierte„Von Auserwähltheit geradezu «durchtränkt»: so möchte ich das Leben Karls in diesem Buch deuten und beschreiben. Seine Überzeugung, auserwählt zu sein, bedeutete ja nicht, dass sich der Monarch als passives Werkzeug des Herrn sah und sich in seinen Handlungen eigener Entscheidungen enthoben glaubte, sondern im Gegenteil, dass er mit seinen Fähigkeiten dem Willen Gottes Geltung verschaffen wollte, soweit es in seinen Kräften stand.“ (S. 20)

Karl IV. gilt als ebenso widersprüchliche wie eindrucksvolle Figur auf dem Thron des römisch-deutschen Kaisers im Spätmittelalter. Im ambivalenten Urteil der Geschichtsschreibung der Gegenwart liegen seine Mittel zur Durchsetzung seiner politischen Ziele zwischen dem wiederbeleben alter und bewährter Praktiken und neuen, in die Zukunft weisenden Methoden.