christian schacherreiter, das liebesleben der stachelschweineAuf der Suche nach seiner Identität wird Österreich schon mal mit einem Schloss verglichen, das Jahrhunderte überdauert hat (Tumler, Schloss in Österreich), oder mit einem von der Roten Armee in den Verfall getriebenen Marchfeld-Gütchen (Fritsch, Moos auf den Steinen). In einer gegenwartsbezogenen Deutung bietet sich an, es mit Österreich als Biomüllanlage zu versuchen.

Christian Schacherreiter zeigt diese Österreichische Seele am Beispiel einer ausgeisternden echten „Nazifamilie“ und eines toten Seitenstumpfs der Sozialdemokratie. Beide Ideologien sind als Familiensaga miteinander verknüpft, wie ein Blick in den Vorspann zeigt, wo im Stile von Doderers Merowingern die Stammbäume ohne Kastrationen ausgerollt sind.

willi giuliani, ein innsbrucker westernJe globalisierter im Netz die Literatur auftritt, man spricht ja von Weltliteratur, umso punktgenauer muss sich darin die Lokalliteratur bewähren. Ein aufregendes „Lokalprogramm“ liefert dabei die Innsbrucker Verlagsbuchhandlung Wagner’sche, die als eine der ältesten der Welt schon alle möglichen Literaturformen erlebt hat. In der Serie „Erinnerungen an Innsbruck“ sind mittlerweile gut zwanzig Bände über Stadtteile, Berufe und besondere Schicksale erschienen. Umgerechnet auf die Bewohner des jeweiligen Themas erreicht diese Serie grandiose Vertriebszahlen.

Willi Giuliani beackert für das Regal „Erinnerungen an Innsbruck“ den Stadtteil Höttinger Au, der bis in die 1940er Jahre Sumpf, Brache und aufgelassene kaiserliche Jagd gewesen ist. Der Stadtteil wird ähnlich entwickelt wie der sogenannte Wilde Westen, zumindest was Tiere und Pflanzen betrifft, wird dabei ähnlich brutal vorgegangen wie beim Feldzug amerikanischer Siedler in Richtung El Dorado. Auf das Gold umgerechnet wäre im konkreten Fall das verheißene Paradies der Innsbrucker Flughafen, auf dem ja auch tatsächlich so manches touristische Nugget geschürft wird.

franz reisecker, musik und andere geräuscheMehr als Elternhaus oder Schule ist es oft die Popmusik, die als Erziehungsmeisterin das Ruder beim Heranreifen der jeweiligen Jugend übernimmt. Der sogenannte Erziehungsroman des bürgerlichen Realismus ist also zumindest im Österreich des späten 20sten Jahrhunderts dem Pop-Roman gewichen.

Franz Reisecker erzählt die Geschichte des Walter Gump, der vom flachen Land aus immer weiter in das Epizentrum des Zeitgeists vorrückt und Band-Musiker wird, ehe er sich dann abgeklärt in das Schicksal der Unauffälligkeit begibt.

bernd ladwig, moderne politische theorie„Moderne politische Theorien im Sinne dieses Buches sind Theorien, die Aufschluss geben könnten, über unsere politische Situation. Mich interessieren zeitgenössische Theorien sowie deren Einflüsse aus direkten Vorläufern. Anders gesagt, moderne politische Theorie ist politische Theorie für und über Gesellschaften.“ (S. 9)

Das Lehrbuch „Moderne politische Theorie“ richtet sich an Anfänger und Einsteiger, in dem fünfzehn Vorlesungen zur politischen Bildung zusammengefasst sind, für die kein Vorwissen über moderne politische Theorien erforderlich ist. Die Einführung stellt dabei sowohl beschreibende als auch wertende Theorien nach Richtungen und Autoren sortiert vor.

andreas pavlic, die erinnertenWahrscheinlich ist Dollfuß einfach zu klein gewesen, als dass sich die Literatur mit ihm beschäftigen könnte. In der Österreichischen Literaturszene rätselt man schon seit Jahrzehnten, warum der eine Österreicher mit Schnauzer ständig Thema in Aufarbeitungsromanen ist, während man den kleinen katholischen Uniformträger, der das Land in eine formidable Diktatur geführt hat, jeweils elegant thematisch umschifft wird.

Andreas Pavlic liefert mit seinen „Erinnerten“ einen höchst notwendigen Vorstoß, der die zwei Haupteigenschaften eines historischen Romans mustergültig auf den Lesetisch legt. Einmal ist es die Themenwahl, die jeden historischen Roman elementar bewegt, und zum anderen der Erzählstandpunkt mit der Fragestellung: Wie kann ich etwas scheinbar Abgeschlossenes erzählen, dass es offen wird für die Gegenwart?

bojana meandzija_lauf! warte nicht auf michBerichte aus Kriegsgebieten sind mittlerweile wieder fester Bestandteil unserer Nachrichtensendungen. Während die Korrespondenten in ihren Kugelwesten den neuesten Status durchgeben, sind wir Zuseher oft noch mit Kriegen aus dem vorigen Jahrhundert beschäftigt. So ein Krieg dauert mindestens drei Generationen, bis er sich halbwegs im Unterbewusstsein der Opfer beruhigt hat.

Bojana Meandžija ist noch immer mit dem Aufarbeiten des Krieges rund um Karlovac in den Jahren 1991-1995 beschäftigt. Als Motto wird ein Gefangener zitiert, der zittrig eine Rasierklinge zeigt, sie habe ihm das Leben gerettet. Er hätte sich nämlich jeden Tag rasiert, statt sich umzubringen. Und jemand anderer sagt: „Ich räche mich am Bösen, indem ich es verschweige.“

friederike gösweiner, regenbogenweissSeit allenthalben sogenannte Trauerratgeber in Schrift und Therapie den Markt überschwemmen, muss man sich in der Literatur einen Ruck geben, um sich auf einen Roman einzulassen, in dem es um die Veränderung des Hinterbliebenen-Lebens durch den Tod des Vorausgängers geht.

Friederike Gösweiner verknüpft die Sinnsuche ihrer Helden anhand jenes Knotens, der durch einen plötzlichen Herztod des Vaters auftritt. Die Kunst des Erzählens besteht bekanntlich darin, die Leser bei Neugierde zu halten, und weniger, eine These abzuarbeiten. Ein erster Blick auf das Figurenset von „Regenbogenweiß“ bremst freilich ein wenig die Lust, sich ungeniert auf den Psycho-Roman einzulassen.

karl-markus gauss, die jahreszeiten der ewigkeitDas wahre Schreiben beginnt für jene Schriftsteller, die es ernst meinen, erst im Alter. Dort entsteht nämlich ein unverwechselbarer Ton und es müssen keine Geschichten mehr zugekauft oder erfunden werden, weil diese der Schreibvorgang selbst spendet.

Karl-Markus Gauß kommt ohne Plot aus, weil er sich dem gereiften Schreibfluss anvertraut, so dass er Erlebnis-logisch im Duktus eines Flaneurs durch jene Jahre kommt, die zu beschreiben er sich vorgenommen hat.

Zum sechzigsten Geburtstag wünscht er sich Lust und Kraft, fünf Jahre lang das Leben sowohl aus der Innenperspektive heraus, als auch als Vorstufe einer individuellen Geschichtsschreibung zu denotieren. Jetzt mit 67 und eine Pandemie später zeigt er ein Buch vor, in dem Geschichte steht, statt Corona.

barbara tilg, weltachseWenn jedem Menschen eine eigene Welt innewohnt, müsste man mit diesen Welten kommunizieren können, indem man sich ihre Weltachsen unter die Lupe nimmt.

Barbara Tilg stellt in ihren fünf Erzählungen ein paar dieser „Weltachsen“ vor, die teils sichtbar aus den Menschen hinausragen als Defekt, teils unsichtbar erahnt werden müssen im geduldigen psychologischen Gespräch.

kristiane kondrat, abstufung dreier nuancen von grauRare Bücher jenseits des Massenauftriebs sind oft in eine individuelle Untergrund-Geschichte eingeschlagen oder tragen diese eingenäht im Umschlag herum. Diese Bücher rutschen im Regal auch gerne nach hinten, während vorne an der sichtbaren Kante die Alltagsware den Zugriff verstellt.

Kristiane Kondrats Roman „Abstufung dreier Nuancen von Grau“ ist so ein verstelltes Buch, das von selbst nach hinten ins Regal wandert, weil es ein Leben lang als Geheimnis, Untergrundstück, eingenähtes Mantelmaterial oder aufgesplittertes Informationsgut quer durch den Kontinent und die diversen Regime getragen worden ist.