Alexander Peer, Der Klang der stummen Verhältnisse
In der Lyrik sind die Sinnesorgane oft eigenartig verkabelt, das Gehör ist an die Haut angeschlossen, der Geruchssinn tastet mit den Sohlen den Boden ab, die Netzhaut sitzt am Gaumen und scannt diverse Geschmäcker. Und selbstverständlich funktioniert das alles auch remote, der Leser liegt im Bett und wischt sich den letzten Herbst aus dem Display.
Alexander Peer verknüpft diese Sensoren ungeniert, sodass auch der Titel völlig logisch ist: Der Klang der stummen Verhältnisse. Und in die Texte sind auch die wundersamen Tuschzeichnungen von Moussa Kone eingeflochten, einmal als heftige Schwarz-Weiß-Schnitte, dann aber auch als durchschimmernde Melasse, die von hinten her in die diversen Gedichte vordrängt.
Scherben sind ein faszinierendes Gebilde voller Widerstand und Querköpfigkeit. Meist sind sie Elemente aus einem größeren Ganzen, das zu Bruch gegangen ist, oft liegen sie in trockenem Gelände herum und lösen bei gutem Sonnenlicht heftige Waldbrände aus. Und kaum geht man barfuß, tritt man sich trittsicher etwas ein, was sich spontan in einem Schmerzseufzer entlädt.
„Jeder, der von Helmuth Schönauers fünftausend Buchbesprechungen erfährt, fragt sich, wie schreibt man fünftausend Buchbesprechungen, und wieso tut man das.“ (S. 5)
Lyrik ist nur im Hardcore ein poetisches Gebilde, das aus seltsamen Wortkonstellationen besteht. In der dynamischen Gedichte-Welt der Gegenwart sitzt die Poesie als Humor, Wissenschaft, Dramaturgie oder Drehbuch zwischen den Zeilen. Manche Gedichte dieser Bauart sind nur durch Zufall ein Gedicht geworden, genauso gut könnten sie ein Spielfilm oder ein Theaterstück sein.
Im Sprachgebrauch sind anschwellende Wortwellen vorgesehen, die auf etwas Unheimliches, Gigantisches oder Katastrophales hinweisen. „Zur Lage“ wird durchaus als pathetische Einstimmung verwendet, wenn es um die Lage der Nation, die Lage der Finanzen oder die Lage an einer Grenze geht.
Da muss jemand schon eine seltsame Reise getätigt haben, wenn die Leute zu Hause vielleicht warten und sich wünschen: Erzähl mir vom Mistral. Üblicherweise werden die Hinterbliebenen mit Selfies überpixelt und die Reise ist bald einmal vom Display gewischt.
Das Geheimnis magischer Wörter liegt oft in ihrem Verhältnis, wie sie zueinanderstehen. Tiefschwarz und unsichtbar ist nicht mit einer Gleichwertigkeit verbunden, sondern das unsichtbar ist zu übersteigert, sodass es vielleicht auch das Tiefschwarz mit sich reißt ins Unsichtbare.
In der Literatur ist eine Kette nicht schwach wie am schwächsten Glied, sondern stark wie am stärksten Begriff. Die Schrift, die Mitte, der Trost ist daher eine tröstliche Unternehmung, weil der Trost der stärkste Begriff ist.
Am Scharnier zwischen Leben und Tod trifft nicht nur das Individuum seltsame Äußerungen, indem etwa ein Gedankengang im Diesseits beginnt und im Jenseits endet, auch die dabei geschaffenen künstlerischen Werke entwickeln einen moribunden Zustand, indem Teile davon nicht mehr von dieser Welt sind.
Abrundungslyrik nennt man jene Gedichte, die zwischen den Bücher-Klusen des Hauptwerks beiläufig entstanden sind und das Gedächtnis an den Autor wachhalten, wenn dieser gerade sonst nichts schreibt.