Erzählung

Christian Kössler, Schatten über dem Inn

h.schoenauer - 26.06.2024

christian kössler, schatten über dem innWer eine Stadt wirklich erkunden will, muss hinter die Fassaden der Häuserzeilen blicken. Während das Navi gute Dienste leistet beim Abschreiten der Objekte, braucht es für die Geister, die dahinter stecken, meist ein Archiv, worin die historischen Seelen gespeichert sind. Die Aufgabe eines Seelen-Erweckers besteht darin, die einzelnen Quellen ausfindig zu machen und ihnen den Stöpsel zu ziehen, um die flüchtigen Gespenster in die Gegenwart zu entlassen.

Christian Kössler hat als Bibliothekar einen sechsten Sinn für makabre, gruselige und hintersinnige Geschichten entwickelt. In regelmäßigen Abständen schreitet er diverse Archivregale ab, nimmt Sagenbücher und Quellen-Schwarten aus dem Regal und zieht den Büchern den Stöpsel. Dadurch entlässt er eingesperrte Geister und tritt mit ihnen anschließend vor einem fröhlichen Publikum auf.

Franzobel, Einwürfe

h.schoenauer - 15.06.2024

franzobel, einwürfeLiteratur ist Fußball und Fußball ist Literatur. - Diese simple Gleichung, die seinerzeit der Wunder-Germanist Wendelin Schmidt-Dengler formuliert und über sämtliche Alltagsmedien verbreitet hat, ist Kern einer Theorie geworden, der sich eine ganze Generation von österreichischen Schriftstellernden verpflichtet fühlt. Plastischer Ausdruck dafür ist die Gründung des österreichischen Autorenfußballteams, das schreibend in professionellen Trikots auftritt und neben Autogrammen auch literarische Texte schreibt.

Franzobel ist in Theorie, Arbeitsleistung und Können wahrscheinlich der Spitzenmann dieser Doppelkultur Fußball-Literatur. Gekonnt nennt er seine Sportkolumnen „Einwürfe“ und bringt diese tatsächlich jeweils in den passenden Strafraum, der sich im konkreten Fall als Kulturseite der Kleinen Zeitung Graz erweist, von wo aus zum eleganten Torschuss angesetzt werden kann.

Elisabeth Wandeler-Deck, Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher

h.schoenauer - 12.06.2024

elisabeth wandeler-deck, antigone blässhuhn alphabet so nebenherLiteratur ist jene dünne Haut, die sich schützend zwischen Ordnung und Unordnung stellt. Ohne sie gäbe es weder das eine noch das andere, folglich nichts. Die Literatur erschafft somit die Welt, wie wir sie uns vorstellen.

Elisabeth Wandeler-Deck benützt ihre beruflichen Betätigungsfelder als Architektin, Soziologin und Gestaltsanalytikerin, um aus den jeweils fachlich gestützten Sichtweisen einen großen Text zusammenzustellen, der entlang der Kante von Ordnung und Unordnung aufgefädelt ist. Tragendes Element ist dabei das Alphabet, das freilich in einen Nebensatz gedrängt wird. In der Hauptsache geht es um Antigone Blässhuhn, und das Alphabet „geschieht“ nur so nebenher.

Clemens Schittko, alles gut

h.schoenauer - 24.05.2024

clemens schittko, alles gutLiteratur spielt ähnlich wie Mathematik auf verschiedenen Ebenen, die über Ableitungen und Hyperlinks miteinander in Verbindung stehen. In der einfachsten Literaturform gibt etwas vor, ein Sachverhalt zu sein, der mit Worten in literarische Wirklichkeit versetzt werden kann.

Für einen Schriftsteller ist diese einfache Welt bereits eine Hinterwelt, denn alles, was er erlebt, ist Teil des Literaturbetriebs, solange er sich darin als Schriftsteller gebärdet.

Clemens Schittko kümmert sich mit seinem Werkstattbuch „alles gut“ um diesen Untergrund, dem er ein Thesengedicht widmet: „das Hauptproblem des Untergrunds // da ist diese Ablehnung, / die man dem sogenannten / Mainstream entgegenbringt / und für die man gleichzeitig / von diesem Mainstream / anerkannt werden möchte“ (139)

Ulrich Schlotmann, Vivat Vivat Hoher Priester

h.schoenauer - 17.05.2024

ulrichc schlotmann_vivat vivat hoher priesterDen dauerhaftesten Eindruck erwecken meist jene Bücher, die beim ersten Durchblättern als Anstrengung empfunden werden. Der erste Eindruck, nämlich – fett, schwer, barock und schelmisch verzweigt – bleibt ein Leben lang, auch wenn sich später in der Lektüre zunehmend konkret fixierter Sinn einstellt.

Ulrich Schlotmann legt jedenfalls ein fettes Buch vor, wie das in der Rezeptionsästhetik gerne genannt wird. Schon im ersten Satz ist alles klar, was ja kein Wunder ist, es gibt nämlich nur einen Satz, welcher sich absatzlos auf fast dreihundert Seiten erstreckt. Am hinteren Cover wird dieses Textgebilde als „Wort- und Satzprozession“ empfohlen.

Li Mollet, später

h.schoenauer - 13.05.2024

li mollet_späterWährend politische Entscheidungsfragen überall auf der Welt mit ja oder nein beantwortet werden, sagt man in Österreich auf eine Entscheidungsfrage oft: „später“. Bereits Kindern wird dieses Wort beigebracht, wenn sie um etwas betteln. Ein Leben lang beherrscht dieses Wort die Entscheidungsfindung, und selbst wenn in hohem Alter jemand um Sterbeassistenz bittet, wird er auf später verwiesen.

Li Mollet hat mit ihrem Besinnungsbuch über diese Zeitangabe natürlich anderes im Sinn. Bei ihr geht es um „Zeitinstallationen“, die womöglich nicht in der Gegenwart dechiffriert werden können, sondern einen späteren Zeitpunkt der Realisation ins Auge fassen.

Franzobel, Im Hirnsaal

h.schoenauer - 15.04.2024

franzobel, im hirnsaal„Poetikvorlesungen besitzen den Glaubwürdigkeitsgehalt einer Teleshopping-Präsentation.“ (15) – Diese entlarvende Einschätzung der Autorin Julie Zeh deutet darauf hin, dass es sich beim Abfassen von Texten über sich selbst um eine schwere Autoimmunstörung handelt.

„Im Hirnsaal“ ist jedenfalls eine aufregende Location, worin der Universal-Autor Franzobl seinen Essay über sich selbst, sowie das Lesen und Schreiben im Literaturbetrieb eingerichtet hat. Der Essay ist 2021 im Rahmen der „Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik“ für die Alte Schmiede in Wien entstanden. Da Franzobel sowohl in Rede als auch in Schreibe als Solitär arbeitet, lässt sich der Essay über „Norm und Abweichung“ lesen, als ob man gerade dem Autor lebend gegenübersäße.

Wolfgang Hermann, Bildnis meiner Mutter

h.schoenauer - 08.04.2024

wolfgang hermann, bildnis meiner mutterMutter-Literatur ist längst als eigenständiges Genre ausgewiesen, in manchen niedrigschwelligen Buchhandlungen gibt es sogar eigene Mutter-Regale, wo die Bücher über Parade-Mütter ausgestellt sind.

Wolfgang Hermann nennt seine Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ und er spielt dabei auf die Porträt-Galerie an, die unter diesem Bildnis-Emblem Meilensteine im Literatursalon ausgehängt hat. Von Peter Handkes „Wunschlosem Unglück“ bis zu Camus „Der Fremde“ mit dem legendären Eingangssatz, „heute ist Mutter gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht“ fordert die Mutter jeden Erzähler aufs innigste heraus. Neben der Klärung der Mutterbeziehung ermöglichen diese Romane einen raffinierten Zugang zur jeweiligen Zeitgeschichte, zu den Leitbildern der darin ausgerollten Erziehungsmodelle, und schließlich taucht in Gestalt der Mutter etwas Mythologisches auf, wenn es um die Frage geht, wo kommen wir eigentlich her.

Gerhard Altmann, Nord – Mitte – Süd. Mein Burgenland

h.schoenauer - 01.04.2024

gerhard altmann, nord-mitte-süd - mein burgenlandIn der globalisierten Tourismusindustrie sind viele Wahrnehmungsfelder eingespannt als Hilfswissenschaften, um die Nächtigungen am Laufen zu halten. Selbst die Poetik, seit den Griechen für den Eigengebrauch empfindsamer Seelen entwickelt, scheint in manchen Landstrichen ohne touristischen Aspekt undenkbar zu sein.

Gerhard Altmann legt sich für den Eigengebrauch heimischer Seelen aus diesem Grund ein poetisches Notizbuch zu, worin das eigene Land vermessen, besungen und gewürdigt wird ohne jenen Zwang, daraus etwas Geschäftliches zu generieren.

Ludwig Roman Fleischer, Verloren

h.schoenauer - 26.03.2024

ludwig roman fleischer, verlorenVerloren stellt man sich am besten als eine Erzählschüssel vor, in der wie bei einer Tombola Geschichten liegen, die „Gedanken-verloren“ gezogen werden können. Jede einzelne Erzählung hat einen unvergleichlichen Plot, der sich rasch ins Leseregister des Users einprägt. Innerlich verbunden sind die Geschichten durch die Formel: Alle Helden haben irgendwie oder irgendwas verloren.

Ludwig Roman Fleischer hat eine einzigartige Publikationsmethode entwickelt, um der Unsitte auszuweichen, das Lebenswerk als vorgelassenen Papierhaufen in einem Institutskeller zu vergraben. Er stellt aus seinem umfangreichen Erzählwerk sogenannte Jahresbände zusammen, die ein besonders drängendes Problem behandeln. Das aktuelle Thema lautet: Wie geht man mit Niederlagen und Verlusten um.