Literarische Bildung in der Kinderlyrik

Bild: LesebärDa Lyrik zu den literarischen Hauptgattungen zählt und Kinderlyrik eine erste Möglichkeit darstellt Kinder mit poetischen Ausdrucksmöglichkeiten vertraut zu machen, findet literarische Bildung bereits sehr früh statt.

Heute findet sich im Buchhandel eine große Auswahl an Literatur, die Anregungen gibt, wie man Kindern die unterschiedlichen Gedichtformen, vom traditionellen Kindergedicht mit dem Schwerpunkt Natur und Tierwelt über Lyrik mit epischen und dramatischen Elementen, wie zum Beispiel Balladen, hin zu wieder neu entdeckten Formen, wie zum Beispiel das surreale Gedicht „die Fatrasie“, näherbringt.

In „77 Methoden für den aktiven Umgang mit Gedichten“ schlägt Salome P. Mithra das „Gestückelte Gedicht“ (2010, S. 43) als praktische Möglichkeit vor, um den Kindern die Begriffe Strophe, Vers und im weiteren Sinn auch Poesie erlebbar zu machen. Viele Gedichtanthologien und auch Lesebücher stellen die literarische Bildung in der Kinderlyrik in den Vordergrund. So finden sich manchmal Gedichte von Goethe neben neueren Klassikern wie Krüss, Guggenmoos, Busta, Maar u.a. Da viele Erwachsene spontan Gedichte aus ihrer Kindheit rezitieren können, jedoch nur wenig Erinnerungen an Lyrik aus dem Jugend oder Erwachsenenalter haben, greifen auch Gedichtbände gerne auf Traditionelles zurück.

Nach dem Motto „Poesie ist ein Lebensmittel, und der Kinderreim gehört zum poetischen Existenzminimum“ (Enzensberger 2012, Buchcover) wurde Hans Magnus Enzensbergers „Allerleirauh“ mit 777 alten und neuen Kinderreimen aus dem Jahre 1961 wieder neu aufgelegt.

Dabei stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Altersangemessenheit. Viele Ausgaben sprechen hinsichtlich bibliophiler Gestaltung, einem Nachwort, Autorenregister oder auch zusätzlichen Erläuterungen primär die Erwachsenen als Käufer an. Wohl in der Hoffnung, dass sie als Vorleser diese Form der gebundenen Sprache den Kindern vermitteln.

Grundschulkinder lassen sich unvoreingenommen auf ein literarisches Gespräch ein. Da sie sich noch nicht verpflichtet fühlen, ein Bildungswissen einzubringen und Gedichte mit diesem Hintergrund zu interpretieren, sind sie offen gegenüber der Meinung anderer, aber auch hinsichtlich der Ästhetik der Sprache.

In welcher Weise erfolgt nun die ästhetische Bildung im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung sprachlicher Ausdrucksformen? Der Gedichtvortrag und das Zuhören sollen den klanglichen Aspekt der Sprache erlebbar machen. Dies ist nicht nur beim lauten Sprechen, sondern auch beim leisen Lesen, das zum inneren Hören animiert, und vor allem auch beim Vertonen von Gedichten möglich, wie zum Beispiel bei Josef Guggenmoos (Die Tulpe). „Literarische Bildung heißt in diesem Zusammenhang, dass die Kinder einen Sinn für den Klang und den Rhythmus literarischer Sprache ausbilden, und zwar (…) durch sinnliches Erleben.“ (Spinner 2016, S. 523)

Schon früh zeigen Kinder Freude am zweckfreien Spielen mit Sprache. Deshalb sind für  Gutzschhahn Gedichte (2015, S. 182) in erster Linie Spiele mit Worten, Klängen und Musik. Sein dickes Buch vom Nonsens – Reim passt in die Reihe von Sammlungen von „Wortwitzigem und Sprachschöpferischem“ (Bydlinski, S. 8) wie auch Bydlinskis Buch „Wasserhahn und Wasserhenne“.

Dieses sinnliche Erleben wird auch durch eine Häufung von Wortarten wie die Dominanz des Verbs in der 1. Strophe des Gedichtes „Das Feuer“ von James Krüss auditiv erlebbar gemacht. Laut Selnar lassen sich beim akustischen Gedicht lautnachahmende, lautsymbolische Formen und Lautspiele unterscheiden (1998, S. 31 – 34).

Während in der ersten Gedichtform der Laut durch die Bedeutung der Wörter nachgeahmt wird, wie in „Das Geisterschiff“ von Jürgen Spohn, wird im lautsymbolischen Gedicht das Phonem zum Sinnträger. „Die Karawane“ von Hugo Ball lässt dem Zuhörer großen Spielraum hinsichtlich seines Vorstellungsvermögens. Lautspiele sind nach dem Prinzip des lautlichen
Gleichklangs aufgebaut oder es erfolgt eine Verfremdung durch die Vertauschung von Vokalen oder Konsonanten. Gedichte wie „ottos mops“ oder „die tassen“ von Ernst Jandl eröffnen zahlreiche Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten und werden gerne und mit Vergnügen gelesen.

Dichterwettstreite, wie es sie bereits im Mittelalter gab, sind heute, ausgehend von Chicago in den Achtzigerjahren, weltweit unter dem Begriff Poetry Slam beliebt und machen sich die Ästhetik der klanglichen Sprache zunutze.

Aktuell müssen auch die Printmedien, vor allem die Unterhaltungsmedien, als Vermittler von Kinderlyrik betrachtet werden. Durch das wiederholte Hören von Titelsongs aus Filmen, Schlagertexten, Pop, Rap, usw. kennen oft schon junge Kinder Reime und Gedichte, teilweise sogar in einer Sprache, die ihnen nicht geläufig ist. Dies hängt wohl damit zusammen, dass sich Kinder verstärkt auf den Klang der Sprache konzentrieren und das Gehörte gerne einfach mit „schön“ beurteilen. Obwohl das Auswendiglernen und Rezitieren von Gedichten auch heute noch seine Berechtigung hat, besteht die Gefahr, dass die ästhetische Funktion darunter leidet.

Fazit
Durch ihre starke bildhafte und symbolische Kraft haben Gedichte sowohl in der Schule als auch im Alltag einen größeren Stellenwert als man gemeinhin annimmt. Poesie umgibt uns, häufig unbewusst, in verschiedensten Formen. Wie ich in meiner eigenen Schul- und Lehrtätigkeit beobachten konnte, beschränkt sich der Literaturunterricht seit den
Achtzigerjahren nicht mehr nur auf reines kognitives Verstehen. Vielmehr ist der Unterricht produktorientiert, methodisch vielfältig und er orientiert sich auch an künstlerischen Entstehungsprozessen. Dabei besteht die Schwierigkeit darin, wie Heckt in der Zeitschrift Praxis Grundschule (2001, S. 4) ausführt, dass kreative und kognitive Verstehensleistungen so miteinander verknüpft werden, dass ein ästhetisches Lernen bei möglichst vielen Kindern erreicht wird. Dies stellt somit das Ziel für die Beschäftigung und die Begegnung mit Kinderlyrik dar. Dann erschließt sich in diesem Bereich der Literatur ein wahrer Schatz zur literarischen und ästhetischen Bildung von Kindern, die in jungen Jahren damit vertraut gemacht, sensibel dafür bleiben.

Literaturliste

BAUMGARTEN, A. (2007). Ästhetik. Band 1. Hamburg: Felix Meiner Verlag.
BYDLINSKI, G. (2002): Wasserhahn und Wasserhenne. Gedichte und Sprachspielereien. Wien: Dachs Verlag.
ENZENSBERGER, M. (2012). Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime. Berlin. Insel Verlag.
FRANZ, K. (2016). Kinderlyrik. Geschichte – Formen – Rezeption. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
GELBERG, H. J. (2011). Wo kommen die Worte her. Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Weinheim und Basel. Beltz & Gelberg.
GELBERG, H. J. (2015). Großer Ozean. Gedichte für alle. Weinheim und Basel. Beltz & Gelberg.
GIEN, G. (2005). Lyrische Texte und ihre Didaktik. In: Lange, G. & W., Swantje (Hrsg). Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdidaktik, Mediendidaktik, Literaturdidaktik. Baltmannsweiler. Schneider.
GUGGENMOOS, J. (1991). Sonne, Mond und Luftballon. Weinheim und Basel. Beltz & Gelberg.
GUTZSCHHAHN, U., WILHARM, S. (2015). Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim. München. Cbj Kinder- und Jugendbuchverlag Random House.
HECKT, D. (2001). Kinderlyrik – kinderleicht? Praxis Grundschule. Ausgabe Juli. Heft 4. S. 4.
JANDL, E. (2012). auf dem land. München. mixtvision – verlag.
LUNGHARD, B. (2016). Gedichte. LUX Spezial. Kleines Volk. Dezember 2016. Beilage 2.
MOTTE´, M. (1992). Kinderlyrik. In: Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Hg. v. Internationalen Institut für Jugend- und Leseforschung. Wien. S. 25 – 40.
MITHRA, S. (2010). 77 Methoden für den aktiven Umgang mit Gedichten. Mühlheim an der Ruhr. Verlag an der Ruhr.
SELNAR, P. (1998). Kinder begegnen Gedichten. München. Oldenbourgh Verlag GmbH.
SCHIKORSKY, I. (2012). Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. Norderstedt. Books on Demand.
SPINNER, K. H. (2016). Literarische Bildung in der Grundschule. Heft 7 – 8. S. 519 – 528.

Text: Ingeborg Pohl

Grafik: Pixabay (gemeinfrei)
 

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