Gwenaëlle Aubry, Niemand

Wenn Identitätsnachweise der Daten-Verwaltung versagen, hilft oft nur ein Roman, eine Nicht-Person oder einen Niemand zu beschreiben.

Gwenaëlle Aubry setzt in ihrem Roman eine klassische Vater-Sohn-Konstellation in den Mittelpunkt des Erzählens, darüber hinaus geht es um den Sinn von Romanen und das Aufschreiben und Erinnern als Therapie.

Die Ich-Erzählerin wird mit den „Übrigbleibseln“ des Vaters konfrontiert. Dieser hat die letzten Jahre in Psychiatrien oder Parterrewohnungen verbracht, was offensichtlich für die Psyche das Gleiche ist. Aus den umfangreichen Textfragmenten sticht vor allem ein Klein-Essay über das melancholische schwarze Schaf hervor, eine Metapher, die wohl am ehesten die Stellung des Vaters im Familienverband beschreibt.

Vater ist zuerst die Familie zerronnen, später an der Uni hat er seine Vorlesungen als Jus-Professor nicht mehr hingekriegt, weil er mit den Studentinnen mehr erotisch als juristisch verkehrt hat, schließlich ist er sich selbst aus dem Leim gegangen und von einer Therapie in die nächste verschickt worden. „Ich habe meine Identität verloren und übrigens auch meinen Ausweis“, fasst er seine Situation zusammen. (27)

Die Tochter stutzt vor allem wegen der Fügung „daraus einen Roman machen“. Offensichtlich lässt sich ein Leben nur mit einem Roman wenn schon nicht erklären, so immerhin in einen Rahmen bringen. Ihre Aufgabe ist es nun, über einen bereits Verschwundenen eine Lebensgalerie mit Bildern eines bunten Lebens zusammenzustellen.

Die Erzählerin wählt dabei ganz bibliothekarisch das Alphabet als Ordnungsprinzip und arbeitet Helden wie James Bond, Schauspieler wie Dustin Hofmann oder Qualitäten des Mannes ohne Eigenschaften ab, wobei durch die deutsche Übersetzung die Ordnung nur funktioniert, wenn auch die französischen Begriffe im Auge behalten werden. Kind, Wiedergänger, Pirat oder Schwarzes Schaf sind einerseits essayistische Annäherungen, andererseits auch Verkleidungen und Rollen, die der Abgetauchte in seinen Schriften hinterlassen hat.

Die Roman-Komponistin fleht sich selbst geradezu an, dass diese Ordnung halten möge und ist dann fassungslos wie eine Bibliothekarin, wenn sie beim Y feststellen muss:

Nun gehen die Buchstaben aus, diese Ordnung ohne Bedeutung, mit deren Hilfe ich versucht habe, seine Unordnung und meine in den Griff zu bekommen, unsere Erinnerungen zu glätten und stammelnd dieses sehr alte Wissen zu buchstabieren, zu dem ich nicht durchgedrungen bin […]. (147)

Niemand ist ein Roman, dessen nicht vorhandene Hauptfigur umso mehr Mitleid und Interesse erweckt, je weiter diese Figur in die Ferne des Vergessens entrückt. – Eine ansprechende Art, eine Biographie zu entwerfen und dem Leben beizukommen.

Gwenaëlle Aubry, Niemand. Roman. A. d. Franz. von Dieter Hornig. [Orig.: Personne, Paris 2009].
Graz: Droschl Verlag 2013. 150 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-85420-843-3.

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Gwenaëlle Aubry, Niemand
Wikipedia: Gwenaëlle Aubry (engl.)

 

Helmuth Schönauer, 01-10-2013

Bibliographie

AutorIn

Gwenaëlle Aubry

Buchtitel

Niemand

Originaltitel

Personne

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Dieter Hornig

Seitenzahl

150

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-85420-843-3

Kurzbiographie AutorIn

Gwenaëlle Aubry, geb. 1971, lebt in Paris.

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