Jörg Zemmler, Papierflieger Luft

Gedichte wie einen Papierflieger bauen und über eine weiße Fläche jagen, Luft so lange beschreiben, bis sie Knetmasse wird, Sätze so lange abschleifen, bis nur noch die zwei wichtigsten Wörter übrig bleiben.

Jörg Zemmler nennt seine zusammengearbeiteten, luftgenagelten und bodengenieteten Textstücke vorsichtigerweise Gedichte in der Hoffnung, dass sie dann im Gedichtband bleiben. Denn seine Texte sind in Wirklichkeit so ungezähmt, dass sie davon fliegen, wenn man eine Seite aufschlägt.

Die Texte lassen sich kaum zitieren, weil ihnen erstens die Seitenzahl fehlt, an der man sie festmachen könnte, und zweitens die Koordinaten von Zeilen und Spatien fehlen, die Wörter liegen in losen Verbindungen auf der Seitenfläche herum.
So kann man also nur sagen, dass im vorderen Teil des Gedichte-Haufens unter anderem Wörterschlieren ausgelegt sind wie:

waggone / ein zug / taschenlampe / an

Kunstvollerweise funktioniert dieses Gedicht. Wer etwa einmal in der Nacht über den Brenner gefahren ist und am Bahnhof von einem Stumpfgleis ins nächste hat wechseln müssen, dem sind auch diese fünf Wörter zu viel.

Das ist nämlich die Hauptkunst des Jörg Zemmler, die Reduktion nichtiger Szenen auf beinahe nichts. Gleichzeitig bläst er die wenigen Teile zu leichten Gebilden auf, die durchaus flugfähig sind. Und mit etwas Konzentration werden die Wörter im lyrischen 3-D-Drucker plastisch und steigen mitten in der Luft als Flugzeug auf.

wer zeichnet mir / einen papierflieger / mit luft drum herum / geschrieben / ist er schon

Hier wird das Zusammenspiel zwischen Autor und Leserschaft deutlich, letzten Endes muss jedes Gedicht vom Leser konstruiert und fertiggestellt werden. Jörg Zemmler macht diese Verfahrensweise sichtbar, indem er wie bei einem Workshop einen Teil ausführt und den Rest der Konstruktion an das Publikum auslagert.

Von dieser Arbeitsteilung profitieren auch Sprüche, Weisheiten, Kalender-Transparente und ähnliche Satzteile, die mehr oder weniger lyrisch an öffentliche Flächen platziert oder an Plätzen aufgeführt werden.

getrocknetes / wasser
schon mal / was anderes erlebt / als / heute
und das mit den augen / ist das aufwachen // und das mit den füßen / ist das aufstehen
dann kam ein pferd / und ritt davon / schrecklich / und gut
auf einer lichtung / ein toter baum / vom ganzen wald / verehrt

Ganze physikalische Lehrbücher, Aufforst-Berichte, Theaterabende oder Therapie-Sitzungen wuchern aus diesen Wortkonstellationen heraus. Was manchmal wie ein schwer reduzierter Notizzettel daherkommt, ist in Wirklichkeit das Fundament für eine märchenhafte Anlage voller Phantasie und Poesie.

Bei Jörg Zemmler wird jedes Wort abendfüllend, dabei halten sich Tiefgang und Gelächter wie in einem guten Brustkorb die Waage.

Jörg Zemmler, Papierflieger Luft. Gedichte
Wien: Klever 2015, 221 Seiten, 18,90 €, ISBN 978-3-902665-99-57

 

Weiterführende Links:
Klever Verlag: Jörg Zemmler, Papierflieger Luft
Homepage: Jörg Zemmler

 

Helmuth Schönauer, 16-10-2015

Bibliographie

AutorIn

Jörg Zemmler

Buchtitel

Papierflieger Luft. Gedichte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Klever Verlag

Seitenzahl

221

Preis in EUR

18,90

ISBN

978-3-902665-99-57

Kurzbiographie AutorIn

Jörg Zemmer, alias Jörg Zemmler, geb.1975 in Bozen, lebt in Seis am Schlern und in Wien.

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