Brigitte Kronauer / Alexander Nitzberg / Ferdinand Schmatz, Dichtung für alle

Längst haben sich vergleichbar mit Zeremonien an alten Kultstätten sogenannte Poetik-Vorlesungen etabliert, meist bleiben dabei die Germanisten unter sich und huldigen einander mit exzentrischen Thesen. Oft ist allerdings auch die Öffentlichkeit zugelassen und die Referenten bemühen sich, etwas Sinnvolles über das Unsagbare der Dichtung zu sagen.

Bei den Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik stellen die Autorinnen und Autoren oft von markanten Sagern Ernst Jandls ausgehend ihr Werk unter dem gegenwärtigen Licht der Eigen-Rezeption in der Alten Schmiede Wien vor.

So bietet Alexander Nitzberg 2010 zwei Wege an, sich Gedichten zu nähern, entweder Gedichte zu lesen und eine Theorie zu erfinden, oder sich einen Sinn der Poetik zu überlegen und diesen mit Gedichten zu unterlegen. Er bezieht sich auf das Diktum Ernst Jandls wonach die Kunst eine fortwährende Realisation von Freiheit ist. (43)

Bei jedem Gedicht gibt es einen rhetorischen Zugriff von außen und einen poetischen von innen. (Unsereins denkt bei Zugriff freilich meist an einen Polizei-Einsatz.) Die Faustregel lautet: Ein Gedicht ist kein Text! (53) Der Musiker Nitzberg vergleicht diese Thesen mit der Musik, wo es ja auch das Dreigespann Muse-Werk-Mensch gibt.

Brigitte Kronauer geht als Prosa-Schriftstellerin 2011 in anderen Schritten auf das Publikum zu, sie stellt das Verhältnis Politik und Poesie unter den Titel „Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft“. Als Schlüsselerlebnis im Umgang mit Literatur und Politik beschreibt sie ein Frühstück nach einem langen Winter, wo zum persönlichen Frühling die Schlagwörter den politischen Stoff abliefern.

Der persönliche Eindruck mündet in künstlerischen Lösungen. Verlässlich hilfreich ist in diesem Zusammenhang „das Alte“ bei Stifter, worin jeweils das Neue Platz hat in ganz anderer Form als in der Avantgarde, die durchaus vergreisen kann. (86) Jandls Gedicht vom Heimkommen beinhaltet alle diese Komponenten vom Vertrauten  und Tages-spezifischem Neuen. „Ins Innere aber kann nur die Vorstellung schauen, und das einzig zugänglich Innere ist das eigene“, wird Dorothea Dickmann zitiert. (108)

Ferdinand Schmatz schließlich stellt seine Vorlesung 2012 unter den Untertitel „Dichtung im Garten der Sinne und des Verstandes“. Die Aufgabenstellung des Dichters lautet vielleicht: Das Ende des Normalen ist der Beginn der neuen Kunst. (139) Am Beispiel des Gartens werden die drei Wesensmerkmale Wort, Bild, Metapher als Garten der Natur, Garten des Gehirns und Garten als begriffliche Natur erschlossen. Die Gedankengänge überprüft Ferdinand Schmatz anhand seines eigenen Gedichtbandes „Tokyo, Echo“.

Drei Vorlesungen über drei Jahre, die den Leser einladen, sich seinen eigenen Zugang zum    poetischen Wald freizulegen.

Brigitte Kronauer / Alexander Nitzberg / Ferdinand Schmatz, Dichtung für alle. Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik. Hrsg. von Thomas Eder und Kurt Neumann
Innsbruck: Haymon 2013. 223 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-7099-7068-3.

 

Weiterführender Link:
Haymon-Verlag: Brigitte Kronauer / Alexander Nitzberg / Ferdinand Schmatz, Dichtung für alle

 

Helmuth Schönauer, 15-05-2013

Bibliographie

AutorIn

Brigitte Kronauer / Alexander Nitzberg / Ferdinand Schmatz

Buchtitel

Dichtung für alle. Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Haymon Verlag

Herausgeber

Thomas Eder / Kurt Neumann

Seitenzahl

223

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7099-7068-3

Kurzbiographie AutorIn

Brigitte Kronauer, geb. 1940 in Essen, lebt in Hamburg.<br />Alexander Nitzberg, geb. 1969 in Moskau, lebt in Wien.<br />Ferdinand Schmatz, geb. 1953, lebt in Wien.