Sophie Reyer, die gezirpte zeit

Ein Titel wie ein Ohrwurm! Schon vom Umschlag an setzt sich das Gezirpe in das Ohr, man hört beim Blättern vor allem die eigenen Grillen aus allen südlichen Sphären und Sommern der eigenen Biographie.

Sophie Reyer entwickelt einen atemlosen lyrischen Sound, den sie tatsächlich als großes Gezirpe durch die Aula der Poesie jagt. Im ersten Eindruck ist es ein Gewirr von Versen und Fügungen, die teils als Litanei, teils als Liste poetischer Aufwiegelungen über die Seiten brausen.

Das Konvolut ist gegliedert in sechs Abschnitte, die in römischen Ziffern unauffällig rechts oben durchgezählt sind und dabei wirken, als hätte sie jemand mit Ordnungsliebe an die Buch-Innenseite geklebt.

Wie das Horror-Es von Stephen King wird in einer Inventur besungen, was es ausmacht, das uns umgibt. Wie alle Gedichte der Sammlung setzt „es“ mit einem Doppelpunkt ein, als Zeichen, dass offensichtlich eine Vorankündigung oder Geheiminformation stattgefunden hat, die jetzt mit dem Gedicht abgeklärt und ergänzt wird.

// es // es ist ein flüstern. / es winkt dir. / es kommt von weit drüben. / es ist über deine kopf kuppel geschart. /es zerstreut sich. / es ist ein fremdes gewächs. // es ist ein niedermähen. / es ist ein hinausfegen. / es ist eine antwort auf das verzerren. / es rast und rückt dich zurecht. // […] (6)

In der Abgebrühtheit und Mehrdeutigkeit, womit dieses lyrische Es daherkommt, unterstützt es das lyrische Gezirpe und geht gleichzeitig voller Geräusch darin unter.

Fukushima hat es wie jeder Ort des Grauens auf Anhieb geschafft, schrill und lautlos wie eine Strahlung einen Kosmos des Schreckens zu evozieren.

 // fukuhsima // […] es sind großstadt gerippe. / es sind keine worte darüber. / es ist ein weißes tuch im gesicht. / es sind verbundene lippen. / es sind keine schlagzeilen mehr. / es gibt keine sprache dagegen. / es wird totgeschwiegen. (17)

Nicht nur ganze Landstriche befinden sich in Auflösung, oft geht auch die hoffnungswolle Biographie einer jungen Seele in Brösel auf und setzt sich als gebrauchter Plastiksack ins Geäst eines namenlosen Gebüschs, jemand bleibt irgendwo liegen mitten in den Tag gepresst, eine Frau gebärt sich auf Theaterbühne selbst und niemand merkt es.

In diesem Chaos voller Abbrüche, leergewetzter Werkzeuge und abgeblätterter Inschriften hilft vielleicht nur mehr die Sehnsucht nach den handfesten Eindrücken und Umarmungen.

// bodenlos // die mutter suchen / erde essen / mit sand duschen // wasch mich schnee / leg mich schlafen gras / halt mich hügel (57)

Sophie Reyers Gedichte werden umso schärfer und Messer-ähnlicher, je näher man sich zu ihnen beugt. Sie können sogar einen Riss im Herzen auslösen, mitten in der Nacht. (27)

Sophie Reyer, die gezirpte zeit. Lyrik.
Horn: Berger 2013. (= Neue Lyrik aus Österreich. Band 2). 64 Seiten. EUR 16,50. ISBN 978-3-85028-576-6.

 

Weiterführende Links:
Verlag Berger: Sophie Reyer, die gezirpte zeit
Wikipedia: Sophie Reyer

 

Helmuth Schönauer, 01-10-2013

Bibliographie

AutorIn

Sophie Reyer

Erscheinungsort

Horn

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Berger Verlag

Herausgeber

die gezirpte zeit

Reihe

Neue Lyrik aus Österreich, Bd. 2

Seitenzahl

64

Preis in EUR

16,50

ISBN

978-3-85028-576-6

Kurzbiographie AutorIn

Sophie Reyer, geb. 1984 in Wien, lebt in Köln.

Themenbereiche