Walle Sayer, Zusammenkunft

Was vielleicht aus einem Bericht eines Überwachungscorps stammt, ist auch die Grundvoraussetzung für Literatur: Die Zusammenkunft von Ereignissen oder Personen ist das Gerüst für jede Erzählung.

Walle Sayer, ein feiner Meister poetischer Begebenheiten, nennt seinen Überwachungsbericht „Erzählgeflecht“. Da ist man als Leser sofort erinnert an das Myzel von Pilzen, während wir an einer Stelle den Fruchtstängel begutachten, ist der Pilz in Größe eines Fußballfeldes als Geflecht unter unseren Füssen.

Ähnlich muss man sich die Geschichten Walle Sayers vorstellen, während wir oberirdisch ein paar Zeilen pflücken, läuft unterirdisch eine Welt aus poetischem Myzel durch unser Unterbewusstsein.

Dabei sind die Fragestellungen, die sich aus den kleinen Zusammenkünften ergeben, durchaus ungewöhnlich. „Wie viele Krawatten braucht es, um sich von hier aus abzuseilen?“ (27) Diese Frage wird sich schon jeder gestellt haben, der sich in eine Position mit seinen Krawatten hinauf geknüpft hat.

Die Toten eines Hauses hängen eingerahmt an den Wänden. (33) wer denkt hier nicht an eine Ahnengalerie im öffentlichen Raum, wo letztlich nur noch Porträts der verflossenen Karrieren hängen.

Während ein Gebückter alte Weichen ölt, werden höheren Orts die Strecken stillgelegt. (35)

Walle Sayer nennt diese markanten Zusammenkünfte diverser Gesellschaftsströme Postkarten, es ist in kurzen Sätzen alles gesagt, wie auch auf einer Postkarte früher alles gesagt worden ist, ehe dann das SMS ausgebrochen ist.

Aber auch die kleinen Helden des Alltags werden ständig von mächtigen Gefühlsschüben überrollt wie von einer Mure. Jemand steigt zur Morgenstunde aus dem Bett und fällt auf den Bettvorleger, der als Sprungtuch des Tages ausgebreitet ist. Ein anderer greift in die Leere um sich die in keinen Umzugskarton passt.

Woran zerbricht eigentlich ein Brecheisen und was bedeutet es, wenn eine Klofrau ihre Münzen zählt? – Die Fragen sind zeitlos ausgebreitet wie ein hinterlegter Stein, der zu Beginn des Erzählgeflechtes als ein Zeit-Loch ausgebreitet ist. Es wird eine Weile dauern, bis wieder Fleisch hin wächst an die Knochenfunde!

Walle Sayers Erzählgeflecht ist aus den früheren Büchern wie „Zeitverwehung“ oder „Kerngehäuse“ entnommen oder unveröffentlicht. Die Texte saugen den Leser an und ziehen ihn in jene Gegend, aus der man vielleicht gar nicht mehr zurück will. Auch wenn dieses ausgeschälte Leben manchmal mühsam ist wie ein Gang mit dem Rollator.

Rollator // Vertikale Zeit. Die Zimmerluft wie durch ein Schilfrohr einatmen. Der herangerückte Stuhl mit dem Faltengebirge des Morgenmantels. […] Das Gehwägelchen wartet schattenbrav in der Ecke. Ist es heut gewesen, war es gestern, dass eins der Enkelkinder eintrat und dabei einen Blumenstrauß vor sich hertrug wie eine Fackel. (191)

Walle Sayer, Zusammenkunft. Ein Erzählgeflecht.
Tübingen: Klöpfer & Meyer 2011. 223 Seiten. EUR 19,50. ISBN 978-3-86351-009-1.


Weiterführende Links:
Klöpfer & Meyer: Walle Sayer, Zusammenkunft
Wikipedia: Walle Sayer

 

Helmuth Schönauer 26/07/12

Bibliographie

AutorIn

Walle Sayer

Buchtitel

Zusammenkunft. Ein Erzählgeflecht

Erscheinungsort

Tübingen

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Klöpfer & Meyer

Seitenzahl

223

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-86351-009-1

Kurzbiographie AutorIn

Walle Sayer, geb. 1960 in Bierlingen bei Tübingen, lebt in Dettingen bei Horb.