Manfred Schullian, Die Essenz der getrockneten Tomate

Buch-CoverOffensichtlich gibt es eine Literatur, die nicht für unkompliziertes Lesen gedacht ist. Der Reiz dieser Geschichten besteht oft darin, wie bei einem Rodeo-Ritt möglichst lange im Sattel zu bleiben, ehe man verlässlich abgeworfen wird.

Manfred Schullian fordert in seinen drei Erzählungen vom Leser eine gewisse Geduld. Fast jeder Satz wird ausgewalzt, bis auch der letzte denkbare Begriff darin untergebracht ist. Immer wieder hört man den Rechtsanwalt aus diesen Texten, unendliche Plädoyers für einen Helden, dessen juristische Vertretung der Autor übernommen hat.

Die Titel gebende Erzählung von der „Essenz der getrockneten Tomate“ sagt ja schon recht hinterzündig, worum es geht. Ein verschrumpelter Musiker lässt sein Leben Revue passieren und verweilt zwischendurch an jenen Erinnerungspunkten, wo eine unbekannte Frau aufgetaucht sein könnte, an die er sich aber vielleicht doch nicht mehr erinnert.

Dies also der Abend, so mein Weg, diese die Stimmung an jenem Abend, da ich sie traf, diese Frau, so habe ich mich ja entschlossen, sie zu benennen oder nicht zu benennen, da sie mich traf, auf mich stieß, mir begegnete, wir uns trafen, ohne es zu wollen, wir uns kreuzten, ohne es zu ahnen, wir uns verbanden, ohne solches zu erwarten oder gar zu erhoffen. (62)

Also Alzheimer ist ein pfiffiges Gedankenschach gegen diese verschnörkelten, abgebrochenen und schwer ausgehusteten Gedankenbrocken dieses Musikers. Als Leser wird man schlicht wahnsinnig, was aber eine tolle Erfahrung ist, wenn man diese abgemurkste, immer wieder neu eingespeichelte Erzählform einmal wirken hat lassen. Dazu kommt noch eine gewisse gewöhnungsbedürftige Unverfrorenheit, mit der an Patrick Süßkinds Monolog ‚Der Kontrabass’, der Urmutter der frustrierten Musikererzählung, erinnert wird.

In der mittleren Erzählung ‚Der Fluch der Rosinen’ drehen Rosinen wirklich durch und entwickeln Fluch, tödliche Heilkräfte und Verunstaltungskraft in einem Aufwaschen. Rosinen sind irgendwie degenerierte Trauben, die den rettenden Sprung ins Weinfass nicht geschafft werden, und daher giftig, garstig und runzelig geworden sind. Böswillig ins jeweilige Essen gemischt, entfalten Rosinen vor allem in der Verwandtschaft satanische Kräfte.

‚Küsters Schuppen’ heißt die abschließende Erzählung, die in einem juristisch antiquierten Deutsch den Leser in ein vergangenes oder Jahrhundert beamt, bis der Schuppen abgebrannt ist.

Gut vorbereitet ist Lesevergnügen nicht ausgeschlossen. In einer Zeit, wo wir die Storys atemberaubend rasch und in gehechelten Sätzen serviert bekommen, ist es schon eine gewaltige Notbremse für das übliche Leseverhalten, wenn man plötzlich in eine alte Robe gesteckt wird und sich unendlich lange Satzschleifen zu Gemüte führt. – Wer’s mag, wird’s mögen.

Manfred Schullian, Die Essenz der getrockneten Tomate. Prosa
Bozen: Edition Raetia 2007. 183 Seiten. EUR 9,50. ISBN 978-88-7283-289-9.

 

Weiterführende Links:
Edition-Raetia: Manfred Schullian, Die Essenz der getrockneten Tomate

 

Helmuth Schönauer, 16-04-2007

Bibliographie

AutorIn

Manfred Schullian

Buchtitel

Die Essenz der getrockneten Tomate

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Edition Raetia

Seitenzahl

183

Preis in EUR

9,50

ISBN

978-88-7283-289-9

Kurzbiographie AutorIn

Manfred Schullian, geb. 1962 in Bozen, lebt in Kaltern.