Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8 April 1945

Buch-CoverEigentlich ist der Krieg schon aus und alles ist gelaufen. Aber genau so verrückt einfach, wie eine Kriegsmaschinerie gestartet wird, so verrückt schwer ist es, diese wieder zu stoppen.

Alexander Kluge "erzählt am Beispiel des Luftangriffs auf Halberstadt, wie eine große strategische Komponente auf den Einzelnen trifft.

Es ist Sonntagvormittag, es gibt eine Kinovorführung, eine Hochzeit ist angesagt, so gut es geht, ist das Leben auf Durchhalten ausgerichtet. Da kommen ungeheure Bombergeschwader und werfen zuerst Markierungsbomben, später Sprengbomben, um die Häuserzeilen aufzureißen, und schließlich Brandbomben. Am Nachmittag bildet sich der sogenannte Feuersturm und vernichtet die Stadt systematisch. Dabei wird Halberstadt eher zufällig zum Ziel, weil die Wolkenlage besonders günstig für einen Angriff ist.

In kleinen Geschichten vom Überleben, Sterben und Durchkommen werden skurrile Details herausgeschält, jede Episode ist an und für sich eine Verrücktheit. Die Kinobesitzerin versucht das Kino zu säubern, damit wenigstens die Spätvorstellung gelingt. Luftbeobachterinnen melden, solange die Leitung noch steht, wo es überall Einschläge gibt, ein Wehrmachtsoffizier versucht von außen, Kontakt zu seinen Angehörigen herzustellen, der Stadtchronist wirft einen letzten Blick auf das Archiv, das er abbrennen lassen muss.

In diese Einzelepisoden sind immer wieder Fotos eingeklebt, auf denen oft nur Grobkörniges zu sehen ist, die aber durch genaue Untertitel ein Bild von höchster Authentizität vermitteln. Beispielsweise rennt eine Menschentruppe durch eine bestimmte Straße, die als solche nicht zu erkennen ist, erst der Untertitel vermittelt eine genaue Nachricht.

In einem philosophisch-fiktionalen Überbau berichtet etwa ein Angriffsstratege, wie man so einen Luftangriff fliegen muss, warum im Flottenverband niemand ausscheren kann und warum letztlich die Todesladung sinnlos genau platziert wird, immerhin handelt es sich bei den Maschinen um Industrieanlagen und die Bomben sind in wertvoller Handarbeit hergestellt.

Auf der anderen Seite berichtet ein Feuerwehrfachmann, wie man solche Brände löschen muss und wie sinnlos es letztlich ist, wenn die Stadt für einen Brand falsch gebaut ist.

Dieser ergreifenden Dokumentation aus dem Jahre 1977 ist ein Aufsatz nachgestellt, worin das Desaster vom 11. September in New York mit dem Luftangriff auf Halberstadt verglichen wird.

Das Besondere am Unfall des 11. September war die besondere Willkür und gewissermaßen Fahrlässigkeit der Attentäter. Nichts hatten sie exakt berechnet. Alles war Dafürhalten. Mit solcher Ungenauigkeit drangen sie in die Nahtstelle zwischen UNWAHRSCHEINLICH und NOCH GERADE WAHRSCHEINLICH ein. Diese Nahtstelle ist für Statistiker besonders schwer zu berechnen. (116)

Alexander Kluge fügt mit dem journalistischen und dokumentarischen Besteck das Unbeschreibliche zu kalten poetischen Schweißnähten zusammen. So beteiligt sich etwa ein Haus an einem kollektiven Brand, aktiv und passiv sind vertauscht, oben und unten entwickeln diametrale Überlebensstrategien, das Individuum trotzt der Maschinerie der Weltgeschichte, indem es seine eigene Untergangs-Episode ausruft. Ergreifend.

Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945.
Frankfurt / M: Suhrkamp 2008. [EA 1977].139 Seiten. EUR 16,80. ISBN 978-3-518-42035-5.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945
Wikipedia: Alexander Kluge
Homepage: Alexander Kluge

 

Helmuth Schönauer, 09-09-2008

Bibliographie

AutorIn

Alexander Kluge

Buchtitel

Der Luftangriff auf Halberstadt am 8 April 1945

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

139

Preis in EUR

16,80

ISBN

978-3-518-42035-5

Kurzbiographie AutorIn

Alexander Kluge, geb. 1932 in Halberstadt, ist Autor und Regisseur in München.