Hanno Millesi, Der Nachzügler

Buch-CoverNormalerweise ist der Nachzügler jemand, der noch schnell geboren wird, während die Familie ihr Vermehrungsprogramm bereits abgeschlossen hat.

In Hanno Millesis Roman freilich zieht der Nachzügler den Ereignissen nach, er trottet der Aufgabenstellung hinterher, die da lautet, eine Zielperson nicht aus dem Auge zu verlieren.

Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller, schlimmer noch, Experimental-Schriftsteller. Seine Fragestellungen lauten daher, gibt es einen literarischen Markt ohne Publikum, gibt es Literatur, die absolut niemanden interessiert, kann das Experiment auf das Leben übergreifen?

Um sich diese exklusive Literaturform leisten zu können, muss der Held eine Nebenbeschäftigung als Beschatter annehmen. Tagelang verfolgt er seine Zielperson und verrichtet so nebenbei die trivialsten Tätigkeiten zur Tarnung. Ein Schuhband binden, obwohl es gar nicht lose ist, einen Zebrastreifen zu Ende gehen, obwohl die Zielperson mitten auf der Kreuzung umdreht, in die Spiegelung eines Schaufensters schauen, obwohl es rein gar nichts zu sehen gibt.

Allmählich verswischen sich Reflexion und Ur-Handlung, vielleicht ist das Beschatten der Zielperson die Hauptaufgabe, bei der so nebenbei Literatur abfällt. Ich sehe mir selber zu, wie ich die Zielperson aus dem Auge verliere, heißt es einmal resignierend.

Die Zielperson scheint keinen Lebensplan im Auge zu haben und schweift von einer Zufälligkeit in die nächste. Als Höhepunkt der Handlung verbrennt sie bei einem Verkehrsunfall. Aber nein, der Beobachter hat schon wieder falsch beobachtet, nicht die Zielperson ist ums Leben gekommen sondern ein zufälliger Begleiter.

Die Erkenntnisse dieser Beschattungsfibel arten manchmal in Kapitelüberschriften aus.

Wenn es eine Wahrheit gibt, dann die, dass um die Wahrheit gekämpft wird. (135)

Auch der Zugang zum symbolischen Profit ist an ökonomische Voraussetzungen gebunden. 161)

Der Beruf des Schriftstellers ist tatsächlich einer, der diejenigen, die sich dazu zählen, am wenigsten festlegt (und ernährt). (175)

Was sich im Roman wie Wittgenstein'sche semantische Klumpen zusammenbraut, muss vom Ich-Erzähler jeweils mühsam aus dem Alltag herausgeschält werden.

Als Leser rast man atemlos durch die Seiten, einerseits ist man in der Geiselhaft eines Kriminalromans, indem sich Gut und Böse so lange beschatten, bis Gut und Böse die Rollen vertauscht haben, andererseits steckt hinter jeder Szene die vollkommene Dechiffrierung des Alltags. Mittendrin beobachtet man sich als Leser selbst, wie man sich beim Lesen beschattet.

Der Nachzügler ist ein grandioser Roman über das Abenteuer Lesen, Schreiben, Spionieren und Hinterherrennen.

Hanno Millesi, Der Nachzügler. Roman.
Wien: Luftschacht 2008. 203 Seiten. EUR 19,50. ISBN 978-3-902373-34-2.

 

Weiterführende Links:
Luftschacht-Verlag: Hanno Millesi, Der Nachzügler
Wikipedia: Hanno Millesi

 

Helmuth Schönauer, 30-01-2009

Bibliographie

AutorIn

Hanno Millesi

Buchtitel

Der Nachzügler

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Luftschacht

Seitenzahl

203

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-902373-34-2

Kurzbiographie AutorIn

Hanno Millesi, geb. 1966, lebt in Wien.