Andrea Gerster, Dazwischen Lili

Buch-CoverManchmal kann der Stoff für eine idyllische Kleinfamilie zu einem epochalen biographischen Desaster führen.

Bei Andrea Gerster dreht sich im Roman natürlich alles um Lili, die in voller Demenz über die Kleinfamilie wacht und diese allmählich zerstört. Die Ich-Erzählerin Ana erlebt eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen, wobei oft nicht klar ist, ob sie diese Erlebnisse bei vollen Sinnen erlebt.

Lili ist die Schwiegermutter der Erzählerin, nach einem Brand bei ihr zu Hause ist sie zu ihrem Sohn Reini überstellt worden, der die Pflegearbeit sofort an die seine Frau, die Erzählerin abgibt.

Spaziergänge bei ungünstigem Wetter, ständig die Suche nach den Zähnen, Inkontinenz, sexuelle Verwirrung, Lili zieht offensichtlich alle Register der Demenz, dabei gibt es durchaus helle Momente, so dass man sich nicht sicher ist, ob sie diesen ganzen Tumult nicht bloß spielt.

Allmählich kommt die ganze Tragödie dieser edlen Familie zum Vorschein. Der Sohn Luca hat sich in ungewöhnlich jungen Jahren quasi noch als Kind mit der Strickleiter umgebracht. Er wurde obduziert und wieder zusammengesetzt, anschließend hat man ihn den Eltern übergeben. Seither ist die Erzählerin ziemlich von der Rolle, in ihrer Verzweiflung buddelt sie sogar am Grab herum und wird wegen Grabschändung angezeigt.

Und immer heftiger wird Lili, sie legt sich sogar ins Bett der Eheleute, als diese nach langer Zeit wieder einmal etwas Sexuelles basteln wollen. Dabei hat sich ihr Sohn seinerzeit als Sechzehnjähriger zu seiner achtjährigen Schwester gelegt und musste rasch in ein Internat gesteckt werden.

Ana überlegt, ob nicht alle Familienmitglieder längst zu einer Art Lili geworden sind, ihr drückt man einen Pflegeordner in die Hand und verspricht ihr sogenannte "lilifreie" Tage.

Das Ende ist versöhnlich schrecklich wie das Lili-Leben. Die Erzählerin und die berüchtigte Linie verbringen den Rest des Lebens in einer Anstalt, der Mann hat längst andere Verhältnisse und putzt sich seine Verantwortung vom Leib, indem er anstandslos den Aufenthalt der beiden in der Pflegeklinik bezahlt.

Andrea Gerster erzählt mit dem Kunstgriff der relativen Wahrheit. Dadurch dass wir als Leser uns auf eine in der Wahrnehmung wackelige Erzählerin verlassen müssen, wird auch das ganze Familiengebäude wackelig. Was nun, wenn die Erzählerin spinnt und nicht Lili? - Dieser Roman ist eine berührende Darstellung dieser intim vertuschten Themen wie Demenz, Pflegenotstand, Kindesselbstmord, Bonus-geile Männer, Sinn und Unsinn von Wahrnehmung.

Aufrüttelnd und aufregend!

Andrea Gerster, Dazwischen Lili. Roman.
Basel: Lenos 2008. 155 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-85787-397-3.

 

Weiterführende Links:
Lenos-Verlag: Andrea Gerster, Dazwischen Lili

 

Helmuth Schönauer, 22-07-2009

Bibliographie

AutorIn

Andrea Gerster

Buchtitel

Dazwischen Lili

Erscheinungsort

Basel

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Lenos

Seitenzahl

155

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-85787-397-3

Kurzbiographie AutorIn

Andrea Gerster, geb. 1959, lebt in der Ostschweiz.

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