Judith-Maria Gillies, Unsere Nullerjahre

Buch-CoverEs gibt diese aufregende Erlebnisschleuse, wo die Gegenwart sich verabschiedet und in Geschichte übergeht. Plötzlich ist etwas nicht nur ein Stück gewöhnliche Gegenwart, sondern das Ereignis sammelt den Staub der Unverwechselbarkeit um sich und wird zu einer historischen Einmaligkeit.

Judith-Maria Gillies beschreibt die sogenannten Nullerjahre, die sich zwischen 2000 und 2009 erstrecken. Scheinbar ist alles noch Tagesgeschehen, aber schon durch die Zeitform des Imperfekts wirken die Dinge abgeschlossen, erledigt und erzählenswert.

Noch weiß niemand, ob sich der Begriff der Nullerjahre durchsetzen wird, aber als vager Terminus für eine bislang noch kaum dokumentierte Epoche eignet er sich hervorragend.

Im Geschichtsbuch für die Nullerjahre sind wie bei einem Lexikon gut zweihundert Begriffe aufgeschlüsselt und jeweils mit einem süffisanten Essay unterlegt. In diesen Texten, die sich wie Reportagen aus einem Magazin lesen, wird einerseits das Unverwechselbare gewürdigt, andererseits aber auch das Publikum, das diese Dinge verwendet, ein wenig auf die Schaufel genommen. Denn von den zweihundert Einträgen ist sicher mehr als die Hälfte unnütz, Scharlatanerie oder das Gebläse eines Marketingrummels.

Viele Figuren und Aktionen sind aus dem Fernsehen in die sogenannte Realität gespült, das heißt, in den Nullerjahren ist vieles zuerst virtuell erledigt worden, ehe sich daraus ein Geschäft, eine Marke oder ein Star entwickelt hat.

Dieter Bohlen, Paris Hilton, Heidi Klum als Protagonisten der Nullerjahre?

Leggings, Plateaupumps, Röhrenjeans als Uniform der Nullerjahre?

Olivenöl, Latte macchiato und Grüner Tee als die Zauberspeisen der Nullerjahre?

Für sich genommen mögen die einzelnen Begriffe noch nicht epochebildend sein, aber Tatsache ist, dass sich daraus so etwas wie ein Lebensgefühl oder ein Zeitgeist entwickeln konnte.

Auch die Kunst kriegt da ihr Fett ab. So sind plötzlich überall Literaturfestivals aus dem Boden geschossen, die kaum noch mit Literatur etwas im Sinn hatten. In jeder noch so entlegenen Gegend hat sich der Regionalkrimi eingenistet und das Publikum hat sich auf Hörbücher gestürzt.

Bei vielen Dingen ist man als Leser überrascht, dass es sich um einen Trend handelt, der noch gar nicht so alt ist. Andererseits gibt es jede Menge Überraschungen, an die man unter gewöhnlichen Alltagsbedingungen kaum denkt. So haben etwa die Kaiserschnitte exorbitant zugenommen, das Joghurt ist probiotisch geworden und die Intimrasur hat sich vollends durchgesetzt.

Mit Judih-Maria Gillies kann man elegant und frech durch die unmittelbare Vergangenheit segeln, man lernt, wie Trends funktionieren und wie letztlich Geschichte gemacht wird. Und da man fast alles selbst ausprobiert hat, ist man als Leser stiller Held dieser Nullerjahre, die zum Teil sehr hirnlos und skurril abgelaufen sind.

Judith-Maria Gillies, Unsere Nullerjahre. Das Jahrzehnt der Bagels, Blogs und Billigflieger.
Frankfurt/M: Eichborn 2009, 223 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-8218-6501-0.

 

Helmuth Schönauer, 01-10-2009

Bibliographie

AutorIn

Judith-Maria Gillies

Buchtitel

Unsere Nullerjahre. Das Jahrzehnt der Bagels, Blogs und Billigflieger

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Eichborn

Seitenzahl

223

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-8218-6501-0

Kurzbiographie AutorIn

Judith-Maria Gillies ist Wirtschaftsjournalistin.