Luc Ferry, Leben lernen: Die Weisheit der Mythen
"Beginnen wir mit der Hauptsache: Was ist der tiefe Sinn der griechischen Mythen und warum sollte man sich noch heute, heute vielleicht sogar mehr denn je, für sie interessieren?" (7)
Ferry ist kein Autor der lange herum fackelt. Er nimmt uns bei der Hand und führt uns gleich mitten ins Thema hinein. Bereits in seinem Vorwort stellt er uns am Beispiel des Odysseus die Gretchenfrage nach dem Ziel der menschlichen Existenz und der kosmischen Ordnung.
Ferry will, dass wir seine Begeisterung für die tiefe Weisheit, die uns aus den Mythen rätselhaft entgegen schreit, verstehen und teilen. Und tatsächlich, was er aufdeckt, ist so atemberaubend wie aktuell. Es ist der ewige Kampf zwischen Ordnung und Chaos, an dessen Faden das Schicksal aller abhängt.
Dabei entkleidet Ferry die Mythen ihres Klischees, das ihnen heute als Märchen und Legenden für Kinder mitunter anhaftet und setzt sie in ihren ursprünglichen Kontext, mit all ihren oft abstoßenden Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, deren Sinn sich uns erst im Laufe der Lektüre allmählich eröffnet.
Bei vielen allgemein bekannten Mythen sind wir überrascht, wie sie unter Ferry Sichtweise einen neuen aufregenden Sinn erhalten, der uns zuvor verborgen geblieben ist. Im Mittelpunkt der mythischen Weisheit, die die Grundlage für die Entstehung der Philosophie bildet, steht "das gute Leben als Leben in Harmonie mit der Ordnung der Welt" (31).
Die zentrale Botschaft der Mythen lässt uns erschrecken, wenn wir vor Augen geführt bekommen, was Menschen passiert, die sich den Göttern gleich stellen, die sich aus Hybris gegen die kosmische Ordnung auflehnen und wenn Hochmut, Arroganz und Anmaßung zum leitenden Motiv ihres Handelns werden. Nicht von ungefähr kommen uns dann Warnungen vor drohenden Klima- und Umweltkatastrophen oder andere Schreckensszenarien in den Sinn.
Es ist diese verblüffende Weisheit der alten Mythen, die sie für unsere eigene Zeit, in der sich der Mensch an die Stelle der Götter gestellt hat, aktueller denn je macht. Der unglückliche Ödipus büsst auf schreckliche Weise für die Vergehen seiner Vorfahren. Er ist Opfer eines Schicksals, für das er nicht verantwortlich ist und das dem Willen der Götter unterliegt.
Hier liegt in meinen Augen die ganze Größe der Tragödie von Ödipus und Antigone: Sie vertritt wahrscheinlich als Erste innerhalb der griechischen Kosmologie diesen Gedanken einer Menschheit mit unbegrenztem subversiven Potenzial. (375)
Luc Ferry entschlüsselt vor unseren Augen den Sinn und die Weisheit dieser wunderbaren Geschichten der griechischen Mythen minutiös, mit viel Feingefühl und Esprit. Was aber das wichtigste ist: Wir lesen sein Buch vermutlich mit derselben Spannung und Begeisterung, mit der die Griechen vor Jahrtausenden den alten Mythen gelauscht haben.
Luc Ferry, Leben lernen: Die Weisheit der Mythen. [Originaltitel: La sagesse des mythes]
Übers. Lis Künzli
München: Verlag-Antje-Kunstmann 2009, 456 Seiten, 25,60 EUR, ISBN 978-3-88897-586-8
Weiterführende Links:
Verlag Antje Kunstmann: Luc Ferry, Leben lernen: Die Weisheit der Mythen
Wikipedia: Luc Ferry