Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur

Buch-CoverAn manchen Tagen wird in Bibliotheken über alles geredet, außer über Literatur. Für das Bibliothekswesen gibt es ohnehin nur die Unterscheidung zwischen freiwilligem Lesen und Prüfungslesen. Daher tut es zwischendurch äußerst gut, wenn man sich als Bibliothekar einen Meister der Literaturkunde zu Gemüte führt.

Mario Andreottis Struktur der modernen Literatur gilt längst als didaktisches Meisterwerk, ganze Generationen von Literaturkundlern sind anhand seiner Struktur ausgebildet worden. Die aktuelle 4. Auflage führt zudem herauf bis ins aktuelle Jahr 2010.

Das Buch ist insofern äußerst raffiniert angelegt, als dass es mit bekannten Begriffen quasi jeweils einen Einstieg in eine Wissenshöhle garantiert, aber steigt man als Leser in so einen Abschnitt ein, kommt man hinten als völlig veränderter Mensch heraus. Das hängt damit zusammen, dass es jeweils bekannte Haltegriffe gibt, dann jedoch die Praxis der Literatur zum Zuge kommt. Somit ist immer klar: Die Literatur ist geschwinder als die Beschreibung darüber, allerdings lohnt es sich, bestimmte Grundzusammenhänge zu kennen.

Prosa, Gedicht und Theaterstück werden zuerst konventionell aufgegriffen, aber in einer grau unterlegten Seitenspalte steht dann, wie diese Dinge in der Gegenwart ausschauen.
Überhaupt sind immer wieder anregende Skizzen eingeflochten, wie in einem gigantischen Map-Minding schrwirren darin die wichtigsten Begriffe herum und werden dann doch logisch festgemacht.

Zu jeder Behauptung gibt es ein Textbeispiel, allein schon die Lektüre der Original-Stellen verleiht einem das Gefühl, eine halbe Bibliothek ausgelesen zu haben!
Und ehe man es sich versieht, ist man schon beim Rap, beim poetry slam oder beim digitalen Hyperlink-Roman angelangt.

Gegenüber anderen gängigen Modellen führt Mario Andreotti zwei originäre Begriffe in seiner Struktur ein. Zum einen etabliert er neben der auktorialen, personalen und Ich-Erzählsituation die sogenannte neutrale Erzählsituation, die in der Gegenwartsliteratur am verbreitetsten ist. Zum anderen arbeitet er sehr stark mit dem Begriff des Gestus und des Gestischen, womit man sowohl die Figuren, die Situationen als auch die Perspektive in modernen Texten gut beschreiben kann. Nach jedem Kapitel kann man sich als Leser testen, die Fallbeispiele sind atemberaubend schön!

Überhaupt liest sich das Buch fließend, die Schlüsselbegriffe sind jeweils wie in einem Hypertext hervorgehoben und fließen quasi von selbst ins Langzeitgedächtnis.
Statt eines Nachwortes erklärt der Autor in zehn Ansätzen, was ein guter Text ist.
Das Glossar ist ohnehin unverzichtbar für Bibliothekare, Leser und Rezensenten.
Wer immer über die Gegenwartsliteratur mitreden will, ist auf Mario Andreottis vernünftige und geschmeidig logische Struktur der modernen Literatur angewiesen.

Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik. Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen. 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage.
Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2009. ( = UTB 1127). 488 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-8252-1127-1.

 

Helmuth Schönauer, 20-02-2010

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Bibliographie

AutorIn

Mario Andreotti

Buchtitel

Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik.

Erscheinungsort

Stuttgart

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

UTB

Seitenzahl

488

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-8252-1127-1

Kurzbiographie AutorIn

Mario Andreotti, geb. 1947 in Glarus, lebt in St. Gallen.