Giancarlo De Cataldo, Romanzo Criminale

Buch-CoverOft lässt sich eine aus den Fugen geratene Gesellschaft nur mehr mit einem brutalen Thriller beschreiben, der jegliche Hemmschwelle des Erzählens abgelegt hat.

So gelten etwa James Ellroys Politthriller über das korrupte FBI verseuchte Amerika der sechziger Jahre als das genaueste, was über diese Epoche erzählt worden ist.

Ähnlich brutal und genau erzählt Giancarlo De Cataldo über das Italien der späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre. Dabei wird der Aufstieg einer Straßengang zu einem übermächtigen Verbrechercorpus zwischen Mafia und Staat beschrieben. In unzähligen Kapiteln die knapp Geschäfte, Abrechnung, Blutvergießen oder Zusammenbrüche heißen und oft nur aus Befehlen und Hinrichtungskommandos bestehen, wird eine Gesellschaft abgebildet, in deren Zentrum das Faustrecht steht.

Im Klappentext sind klugerweise die Protagonisten angeführt, sie sind beinahe so groß wie die Bevölkerung, denn beinahe jede Berufsgruppe hat ihre Hände im Spiel. Wie in einer griechischen Tragödie gibt es die Typen von der Straße, womit sinnigerweise Gangster wie Polizisten gemeint sind. Immer wieder spielen Frauen als begehrte Verbrechenssubjekte eine Hauptrolle, und diese Frauen ziehen ganz schön an der Strippe des Verbrechens, während die Männer zwischendurch einsitzen. Eine eigene Gruppe bilden die Machthengste, die gleichmäßig verteilt in der Politik, in der Justiz und in der Mafia sitzen. Und unter Chor ist alles zusammengefasst, was im Laufe eines Tages illegale Geschäfte macht, und das sind eben alle.

Die Erzählweise ist kurz angebunden, Gefühle, Handlungen, pure Facts und kurzfristige Entscheidungen aus dem Bauch heraus lösen sich ohne Mucks ab, die Dialoge rattern als Einzelsätze über die Seiten, dabei knattert die Sprache wie Einschüsse.

Während als große politische Folie Aldo Moro entführt und umgebracht wird, tut sich im Staat in seiner Lähmung jede Menge Freiraum für Anarchie auf.

Dabei fängt die Straßengang um den Haupthelden Libanese relativ überschaubar mit ihren Gründungshandlungen an. Ein Verräter will nicht gestehen, da murmelt jemand etwas von Gnadenschuss, aber weil man diesen nur einem Angeschossenen gewährt wird, schießt man dem Delinquenten ins Bein, damit er später seinen Gnadenschuss kriegen kann. (16)

Manchmal entwickeln die Figuren grandiose Überlebensstrategien, um dem allgegenwärtigen Desaster zu trotzen. "Aber Ranocchia war einer, der nicht einmal starb, wenn man ihn umbrachte." (153) Und manchmal zeigen die eiskalten Typen sogar etwas wie Gefühle, zumindest sich selbst gegenüber. "Nero musste sich entspannen. Nach der Tat fühlte er sich leer". (178)

Giancarlo De Cataldo erzählt brutal klar und unbarmherzig genau. Der Stoff lässt sich kaum im Zaume halten, ständig quillt etwas unter der Zunge oder zwischen den Fingern hervor, nichts lässt sich zusammenhalten, die ganze Saga explodiert und durchsiebt die umliegenden Textseiten. Romanzo Criminale ist ein durchgehendes Erzähl-Attentat, wobei die Gesellschaft ab und zu mit abgerissenen Gliedmaßen salutiert.

Dieser Politthriller ist erschreckend aufrüttelnd, grausam und nirgendwo festzumachen. Nach ein paar hundert Seiten bleibt man als Leser stumm und starr in einer verrenkten Lese-Pose übrig und hat den Eindruck: Meingott, wie wahr das alles ist!

Giancarlo De Cataldo, Romanzo Criminale. Politthriller. A. d. Ital. von Karin Fleischanderl. [Orig.: Romanzo criminale, Turin 2002].
Bozen, Wien: folio 2010. 574 Seiten. EUR 24,90. ISBN 978-3-85256-508-8.

 

Weiterführender Link:
Folio-Verlag: Giancarlo De Cataldo, Romanzo Criminale

 

Helmuth Schönauer, 03-03-2010

Bibliographie

AutorIn

Giancarlo De Cataldo

Buchtitel

Romanzo Criminale

Originaltitel

Romanzo Criminale

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

folio

Übersetzung

Karin Fleischanderl

Seitenzahl

574

Preis in EUR

24,90

ISBN

978-3-85256-508-8

Kurzbiographie AutorIn

Giancarlo De Cataldo, geb. 1956 in Taranto, lebt als Schriftsteller und Richter in Rom.