Natalja Kljutscharjowa, Endstation Rußland

Buch-CoverVon allen Ländern, aus denen wir unsere Träume einfliegen lassen, kriegen wir im modernen Literaturbetrieb letztlich nur ein Marketing-Konzept übersetzt.

Ein krasses Beispiel dafür liefert der frisch nach Berlin übersiedelte Suhrkamp-Verlag, der einen frechen Roman "Russland im offenen Wagon" mit "Endstation Rußland" an unsere Lese-Herzen wirft.

Im besten Fall kann man diesen nostalgischen Titel noch mit scharfem "ß" lesen, das Land, in dem der Ruß vorherrscht. - Wenigstens gibt es ein Nachwort zu diesem Roman und eine Art Glossar, sonst würde man von diesem als Jugendbuch getarnten Buch eher vor Wut in die Knie gehen denn aus Erkenntnis.

Natalja Kljutscharjowa erzählt das, was Sigrid Löffler einmal den ausgebüchsten Campus-Roman genannt hat. Nikita neigt zu Ohnmachtsanfällen, sobald er etwas Interessantes sieht, andererseits findet er Geschehnisse, die ihn ohnmächtig werden lassen, interessant. So reist er in dreiunddreißig Kapiteln im Großraum-Wagen, weil es die billigste Methode ist, und findet dabei den ohnmächtigen Alltag der Bevölkerung außerhalb des offiziellen Moskau-Russlands.

Die Begebenheiten sind skurril, eine Bahnlinie wird stillgelegt, und der Lokführer klaut noch eine Lok und flüchtet mit seiner Geliebten, weil sie schon zwei Kinder von ihm hat und es ohnehin keine Zukunft gibt. An anderer Stelle wirft ein Schaffner alles aus dem Zug, was keine Zukunft hat, inklusive dem Helden.

Die Bahnhöfe tragen übersetzt so sinnige Namen wie "Dno" (ganz unten) oder Dudki (denkste). Und auch die Figuren, die fallweise über die Bahn kommunizieren, haben negative Kosenamen.

Während Nikita sein Eisen-Road-Movie abspult, erfahren wir alles über die Literaturszene, wie sie sich so in den verschiedenen Neigungsgruppen am Campus abspielt. Von der verhöhnenden Art, Turgenjew zu rezipieren, bis zur progressiven Aufnahme Nabukovs, dem Ahnvater kollegialen Umgangs zwischen den Supermächten im Kalten Krieg, kommt so gut wie jedes Seminar-Thema als down-grade-Dialog zum Vorschein.

Und die obligate Verstopfung in der Liebesader wird dadurch entpfropft, dass die Geliebte doch wieder aus der Schweiz zurückkehrt, nachdem sie dort alles gestopft hat.
Viel subversiver Multi-Dialog, viele verrückte Bahnstationen und märchenhaft einfache Analysen lassen Russland als wildes Land erscheinen.

Nicht nur in der Erzählweise, sondern auch in der Aufmachung des ganzen zielt der Roman auf ein Publikum, das endlich Pippi Langstrumpf real lesen will. Und Natalja Kljutscharjowa hat ihr Handwerk an der Schreib-Uni gelernt, sie befriedigt alles, was der Markt will. - Wir aber träumen von einer echten Untergrundliteratur, die allerdings nicht bei Suhrkamp erscheinen dürfte.

Natalja Kljutscharjowa, Endstation Rußland. Roman. A. d. Russ. von Ganna-Maria Braungardt. Mit einem Nachwort von Swetlana Alexijewitsch. [Orig.: Rossija: obscij vagon, Sankt-Petersburg 2008].
Berlin: Suhrkamp 2010. 187 Seiten. EUR 9,90. ISBN 978-3-518-46157-0.

 

Weiterführender Link:
Suhrkamp-Verlag: Natalja Kljutscharjowa, Endstation Rußland

 

Helmuth Schönauer, 20-07-2010

Bibliographie

AutorIn

Natalja Kljutscharjowa

Buchtitel

Endstation Rußland

Originaltitel

Rossija: obscij vagon

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Suhrkamp

Übersetzung

Ganna-Maria Braungardt

Seitenzahl

187

Preis in EUR

9,90

ISBN

978-3-518-46157-0

Kurzbiographie AutorIn

Natalja Kljutscharjowa, geb. 1981 in Perm, lebt in Abramzewo bei Moskau.