Rodolfo Walsh, Das Massaker von San Martin

walsh,massakerIn unseren literarischen Breitengraden gilt eher die Doktrin, nichts ist so real wie die Fiktion, während man in der lateinamerikanischen Literatur das so genannte Testimonio für das höchste der Realität hält. Nicht Repräsentieren sondern einfach Präsentieren, heißt ein Schlüsselsatz.

Als Wegbereiter für die Realo-Fiktion oder Testimonio-Literatur gilt Rodolfo Walsh mit seinem Semi-Roman "Operacion Masacre". Darin geht es um ein Massaker in einem Vorort von Buenos Aires anlässlich eines Putsches 1956. Von den etwa vierzehn Hingerichteten bleiben sieben irgendwie am Leben, was zu so verrückten Überschriften führt wie etwa: Einer der Erschossenen lebt (45) oder Ein Toter bittet um Asyl (111).

Das Massaker wird in drei klaren Abschnitten aufgezeichnet, Personen, Ereignisse, Beweisführung. Dabei geht es letztlich um den Umstand, dass kurz nach Mitternacht das sogenannte Standrecht ausgerufen wird, aber bereits vor Mitternacht die zufällig anwesenden Personen einer konspirativen Wohnung verhaftet werden. Irgendwer gibt dann den ominösen Befehl zum Erschießen, von dem die Exekutanten und die zu Exekutierenden gleichermaßen überrascht werden. Später dann hat niemand etwas gemacht, der Staat geht zur Tagesordnung über, offensichtlich gehört es zu seiner geheimen Verfassung, dass Exekutionen grotesk und unbewusst über die Bühne gehen.

Der Stil dieses Berichts-Romans ist abenteuerlich geradlinig, so dass man es als Leser kaum aushält, ohne Schutz der Fiktion diese nackten Tatsachen lesen zu müssen.

Ich vergesse auch nicht, dass ich, innen gegen den Rollladen gelehnt, auf der Straße einen Rekruten sterben hörte, und dieser Mann rief dabei nicht: "Es lebe das Vaterland!" sondern er stöhnte: "Lasst mich jetzt nicht allein ihr Arschlöcher". (10)

Auch sonst geht es geradlinig auf den Wahnsinn der Realität zu, ein Folterknecht, der besonders gerne mit Strom foltert, wird nach der Spannung 220 genannt. Nach dem Massaker wird die Erzählzeit völlig angehalten, weil sich ja die Überlebenden tot stellen müssen. Einer überlebt sogar den Gnadenschuss, während ein anderer in seinem hellen Pulli wie ein frisch hingerichteter Jesus ausschaut.

Alle diese normalen Sätze versuchen schließlich nur eines: Das Unbegreifliche eines Massakers zu beschreiben, das in der argentinischen Geschichte offensichtlich immer wieder passiert ist.
Wenn die Wirklichkeit so real ist, dass man sie mit beiden Händen umfassen kann, kann man sie nur mit beiden Händen beschreiben. Rodolfo Walsh ist dieses makabere Unterfangen schaurig realistisch gelungen.

Rodolfo Walsh, Das Massaker von San Martin. Ein Bericht. Neuübersetzung a. d. Span. und Nachwort von Erich Hackl. [Orig.: Operacion Masacre, Buenos Aires 1957].
Zürich: Rotpunktverlag 2010. 255 Seiten. EUR 19,50. ISBN 978-3-85869-413-3.

 

Weiterführende Links:
Rotpunkt-Verlag: Rodolfo Walsh, Das Massaker von San Martin
Wikipedia: Rodolfo Walsh

 

Helmuth Schönauer, 19-08-2010

Bibliographie

AutorIn

Rodolfo Walsh

Buchtitel

Das Massaker von San Martin. Ein Bericht

Originaltitel

Operacion Masacre

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Rotpunktverlag

Übersetzung

Erich Hackl

Seitenzahl

255

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-85869-413-3

Kurzbiographie AutorIn

Rodolfo Walsh, geb. 1927 in der argentinischen Provinz Rio Negro, wurde 1977 in Buenos Aires von der Militärjunta getötet.

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