Oksana Sabuschko, Museum der vergessenen Geheimnisse

Buch-CoverMuseen werden oft mit zur Schau gestellten Fundamenten verglichen, auf denen Gegenwart und Zukunft ruhen. So geben jene Dinge, die zur Schau gestellt werden, durchaus Auskunft über den Zustand einer Gesellschaft.

Wenn etwa nur kitschige Krümel in den Vitrinen liegen, kann man etwa auf eine intellektuell eher schmalbrüstig aufgestellte Gesellschaft schließen.

Oksana Sabuschko schreibt in ihrem Mammut-Roman über die vergessenen Geheimnisse der ukrainischen Gesellschaft, die scheinbar fix unter einer Decke voller Gedächtnislücken vergraben sind. Aber die Autorin kehrt alle diese versteckten Geheimnisse aus den Ritzen der Erinnerung.

Zu diesem Zweck fädelt sie die ukrainische Geschichte an Frauenschicksalen auf, weil es letztlich die Frauen sind, die die wirkliche Geschichte schreiben. Auf drei Schauplätzen der Geschichtsschreibung wird das Land aufgerollt.

Einmal berichtet die TV-Journalistin Daryna von allen möglichen und unmöglichen Ereignissen im Land. Ihr Zugang zu den Themen ist ein durchaus erotischer, so wird sie einmal heftig sexuell hergenommen, als sie sich in das Bild der ehemaligen Partisanin Helzja vertieft, worüber sie eine Dokumentation drehen wird. Schließlich kommt auch noch die Künstlerin Wlada ins Spiel, die einen tödlichen Verkehrsunfall erleidet, worauf hin ihr Geheimnis-Zyklus verschwindet.

Journalismus, Widerstandskampf und Kunst sind drei Facetten, wie man die Gesellschaft umkrempeln könnte. Alle drei Zugänge bedürfen unendlicher Geduld und Selbstachtung.
Der Roman ist folgerichtig eingeteilt in Säle, worin die einzelnen Ereignisse ausgestellt sind.

Dabei geht es nicht nur um die große Geschichtsschreibung des Landes, die Vertuschungen und Massaker, sondern auch um die privaten Verlogenheiten und Verbrämungen. Der sexuelle Kampf zwischen den Geschlechtern läuft manchmal ähnlich ab wie jener zwischen Staatsgebilden und Regimen. Selbst das Bild ihres Vaters wird für die Journalistin zu einem bedrohlichen Unding, das erst durch mühsame Recherche und Genauigkeit des Blicks halbwegs Konturen gewinnt.

In die dichte Prosa von Erinnerung, Recherche und kühner Assoziation sind immer freche Thesen eingewoben, etwa dass erfolgreiche Frauen männlich erzogen worden sind (60) oder dass der Tod eines jungen Mannes mehr Eindruck schindet als jener einer jungen Frau (93). Freilich werden solche Theorien oft noch auf derselben Seite zerpflückt und im Sinne der Aufklärung beiseite geräumt. Aber so sehr man sich als aufgeweckter Mensch um die Klarheit der Verhältnisse bemüht, das Vergessen lauert an allen Ecken und Enden.

Und dann, schön langsam, beginnt das Vergessen zu tröpfeln. Oh Gott, ist das denn wirklich alles? (104)

Oksana Sabuschko durchpflügt mit ihrem Roman alles, was in den letzten Jahrzehnten vergraben worden ist. Der Text gleicht einem aufgewühlten Areal, auf dem alles aufgeschüttet ist, was je verstohlen beiseite geräumt worden ist. Geschichtsschreibung, Psychoanalyse, Geschlechterkampf, Kunsttheorie liegen fragmentarisch herum und wollen vom Leser in eine Ordnung gebracht werden, damit man die Dinge auch betrachten kann. - Aufregend.

Oksana Sabuschko, Museum der vergessenen Geheimnisse. Roman. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil.
Graz: Droschl 2010. 850 Seiten. EUR 29,-. ISBN 978-3-85420-772-6.

 

Weiterführender Link:
Droschl-Verlag: Oksana Sabuschko, Museum der vergessenen Geheimnisse

 

Helmuth Schönauer, 23-08-2010

Bibliographie

AutorIn

Oksana Sabuschko

Buchtitel

Museum der vergessenen Geheimnisse

Originaltitel

Muzej pokynutych sekretiv

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Droschl

Übersetzung

Alexander Kratochvil

Seitenzahl

850

Preis in EUR

29,00

ISBN

978-3-85420-772-6

Kurzbiographie AutorIn

Oksana Sabuschko, geb. 1960, lebt in Kiew.