Andrej Kurkow, Der Gärtner von Otschakow

Eine gute Geschichte ist letztlich wie die Geschichte überhaupt nichts anderes als der Wechsel von Zeit.

In Andrej Kurkows skurrilem Roman über den permanenten Zeitenwechsel taucht allmählich das wahre ukrainische Untergrundleben glasklar hervor wie in einem Geschichtsbuch voller Verständnis und Augenzwinkern.

Schon die Story schwankt zwischen nach hinten angelegter Science-Fiction und politisch motiviertem Krimi. In einem Vorort von Kiew mietet sich bei Igors Mutter eines Tages der Gärtner Stepan im Schuppen ein, sein besonderes Kennzeichen ist ein geheimnisvolles Tattoo. Sofort macht Igor ein Foto und dechiffriert mit seinem Hacker-Freund den Code des Tattoos.

Die Spur führt in die entlegene Hafenstadt Otschakow etwa um die Zeit von 1957. In einer spontanen Expedition dorthin erbeuten Gärtner und Haus-Sohn seltsame Gegenstände, eine historische Milizuniform und ein Buch über das Essen.

„Ab sechs Uhr früh arbeiten wir, ab drei Uhr nachmittags trinken wir“, heißt die Parole der Ukraine. Sobald Igor ordentlich getankt hat und in die Uniform schlüpft, gerät er in einen Retro-Flash der fünfziger Jahre mit echten Personen, Sorgen, Fotos und hausbackenen Leckerbissen jener Zeit. Halbwegs nüchtern, bleibt ihm nur das triste Leben in der Kiewer Vorstadt, was ein abermaliges Trinken nötig macht.

Ist es ein betrunkener Traum oder jenseitige Wirklichkeit? (83)

Allmählich gelingt es, kostbare Fotos aus der Vergangenheit zu schießen und eine bemerkenswerte Ausstellung zu installieren. Umgekehrt wird der Hacker-Freund aus der Gegenwart von der Daten-Mafia bedroht und muss untertauchen. Was liegt näher, als diesen Verfolgten für immer ins Retro zu schicken?

Der Gärtner aus Otschakow löst sich hingegen von seiner Vergangenheit ab, investiert in die Gegenwart und wird erfolgreicher Unternehmer, der feierlich seine zwei ersten Häuser kauft.

Andrej Kurkow erzählt völlig losgelöst von den jeweiligen Gegenwarten. Mitten im Absatz werden alte Mythen aufgesucht und mit dem zeitgenössischen Geschehen gekreuzt. Alles kann Vergangenheit oder Zukunft sein, es geht nur um die jeweils richtige Dosierung von Wirklichkeit durch Alkohol.

Natürlich endet jede Aktion in Gewalt, Suff oder Melancholie. Die Ziele des Landes sind vielleicht am besten im legendären Buch des Essens aus sowjetischer Zeit nachzulesen. Denn wer nicht richtig isst, konnte früher einmal verhaftet werden wegen Verhöhnung des Regimes.

Aus der skurrilen Geschichte tritt allmählich diese konkrete Ukraine hervor, voller Suff und Ziellosigkeit, mit jedem Gedankengang zurück gebeamt in ein imaginäres Jahr 1957, wo das Land zwar keine Geschichte, aber wenigstens einen eingefrorenen Traum vor der Nase baumeln hatte. - Eine wahnwitzige Methode, seinem Heimatland zeitlose Zuneigung zuteilwerden zu lassen!

Andrej Kurkow, Der Gärtner von Otschakow. Roman. A. d. Russ. von Sabine Grebing. [Orig.: Sadownik iz Ocakowa; Charkow 2010.]
Zürich: Diogenes 2012. 342 Seiten. EUR 23,60. ISBN 978-3-257-06814-6.

Weiterführende Links:
Diogenes-Verlag: Andrej Kurkow, Der Gärtner von Otschakow
Wikipedia: Andrej Kurkow

 

Helmuth Schönauer 28-04-2012

Bibliographie

AutorIn

Andrej Kurkow

Buchtitel

Der Gärtner von Otschakow

Originaltitel

Sadownik iz Ocakowa

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Diogenes-Verlag

Übersetzung

Sabine Grebing

Seitenzahl

342

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-257-06814-6

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Kurkow, geb. 1961 in St. Petersburg, lebt in Kiew.