Wenn Menschen nicht lesen und schreiben können!

„In Österreich gelten seit Jahren offiziell 300.000 Menschen als funktionale AnalphabetInnen, ExpertInnen gehen jedoch von einer rund doppelt so hohen Zahl aus.“ Diese Meldung der Österreichische UNESCO-Kommission, die im September 2005 anlässlich des Welttages der Alphabetisierung veröffentlicht wurde, erregte für kurze Zeit die Gemüter der heimischen Innenpolitik.So schnell wie die Aufregung aber entstanden war, verschwand das Interesse am Thema „Analphabetismus in Österreich“ auch wieder. Offen bleibt die Frage: Wie groß ist die Zahl der Analphabeten in Österreich und in Tirol wirklich? Und: gibt es in Tirol die Möglichkeit, als Erwachsener Lesen und Schreiben zu lernen?

Kaum hatte die UNESCO-Kommission-Österreich die geschätzte Zahl von 300.000 bis 600.000 Analphabeten in Österreich veröffentlicht , musste sie sich gegen den Vorwurf rechtfertigen, in ihrer Aussendung mit unseriösen Zahlen argumentiert zu haben.

Wenn es keine umfassende Studie zu den tatsächlichen Zahlen der AnalphabetInnen in Österreich gibt, kann die Tragweite des Problems nicht voll erfasst werden und auch die statistischen Ursachen bleiben unbekannt. Diese Erhebung durchzuführen, würde dem Beispiel anderer europäischer Länder folgen und die Basis für flächendeckende, gezielte Maßnahmen schaffen", so ÖUK-Generalsekretärin Gabriele Eschig.

In Österreich wäre es außerdem wichtig, Aktionen zur Enttabuisierung und Sensibilisierung des Umfeldes und eine Verbreiterung des Angebots zu starten, meinte Eschig: "Noch immer gibt es zu wenig Wissen über die spezifischen Bedürfnisse von funktionalen AnalphabetInnen.
Analphabetismus: UNESCO-Kommission wehrt sich. Der Standard, 12. September 2005

 

Was wird unter Analphabetismus verstanden?

Die Anforderungen, die an die Lese- und Schreibfertigkeiten der einzelnen Menschen gestellt werden, richten sich danach, wie sehr das gesellschaftliche Leben durch das geschriebene Wort geregelt wird. Das heißt, dass Menschen die das Lesen und Schreiben nicht ausreichend beherrschen, nur unter größten Mühen am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben teilnehmen können. Verstärkt wahrgenommen wird der Analphabetismus, seit jene Arbeitsplätze immer weniger werden, für die es nur in geringem Ausmaß nötig ist, Lesen und Schreiben zu beherrschen. Durch die Einführung neuer Technologien in die Arbeitswelt hat sich die Anforderungen an die Lese- und Schreibkompetenz erheblich verstärkt.

Von Analphabetismus wird gesprochen, wenn Erwachsene entweder über keine oder nur über unzureichende Lese- und Schreibkenntnisse verfügen. Bei Personen, die keine schulische Ausbildung erhalten haben, wird von einem "natürlichen oder primären Analphabetismus" gesprochen.

Im Begriff des funktionalen Analphabetismus, wird auf die gesellschaftliche Bedeutung des geschriebenen Worts Rücksicht genommen. Ob jemand als funktionaler Analphabet gilt, ist somit nicht nur von den individuellen Lese- und Schreibkenntnissen abhängig, sondern darüber hinaus auch davon, welche Lese- und Schreibfähigkeitn innerhalb einer jeweiligen Gesellschaft erforderlich sind und erwartet werden. Sind die individuellen Kenntnisse niedriger, als die in einer Gesellschaft als selbstverständlich erwarteten, liegt funktionaler Analphabetismus vor. Der Begriff beschreibt somit nicht „Analphabetismus“ im wörtlichen Sinn, sondern das „Nicht-Verwenden-Können“ von Schrift.

Obgleich sich die Definition des funktionalen Analphabetismus nur sehr schwer fassen lässt, hat sich in Deutschland in der Praxis eine grobe Einteilung in drei Gruppen bewährt:

  • Menschen, die weder lesen noch schreiben können.
  • Menschen, die einfache Wörter oder Texte nur mühsam lesen können.
  • Menschen, die relativ gut lesen können, aber erhebliche Probleme beim Schreiben haben und deshalb Situationen meiden, in denen sie schreiben müssten.

Einen Sonderfall des funktionalen Analphabetismus stellt der sogenannte „sekundäre Analphabetismus“ dar. Dieser liegt vor, wenn Personen die Schriftsprache während der Schulzeit zwar mehr oder weniger erfolgreich erlernt haben, danach aber die bereits vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten im Laufe der Jahre wieder soweit verlieren, dass die gesellschaftlichen Mindestanforderungen unterschritten werden.

In Deutschland wurde das Phänomen des funktionalen Analphabetismus bereits Ende der 70-iger Jahre verstärkt wahrgenommen und schon bald die ersten Alphabetisierungskurse für deutschsprachige Erwachsene zunächst im Strafvollzug und dann an Volkshochschulen eingerichtet. Die deutsche Bildungspolitik hat ähnlich verhalten auf das Thema „Analphabetismus“ reagiert, wie die Bildungspolitik in Österreich im vergangenen Jahr. Das Phänomen „Analphabetismus“ wurde ignoriert, geleugnet oder auf Einzelschicksale reduziert.


Die Printmedien Plakatkampagne gegen Analphabetismus in Deutschland wurde auch durch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt. Quelle: Frankfurter-Akademie

 

Nachdem das Problem des „Analphabetismus“ schließlich wahrgenommen worden war, wurde das Problem individualisiert, indem es hieß: Funktionale Analphabeten hätten das Lesen und Schreiben nach der Schule verlernt, weil sie die gelernten Kenntnisse nicht mehr angewendet hätten. Erst viel später geriet auch die didaktische Gestaltung des Lese- und Schreibunterrichts in den Grundschulen in das Blickfeld der Bildungspolitik. Mit ein Grund dafür war die 1. PISA-Studie mit der aufgezeigt werden konnte, das die Leseleistung eines beachtlichen Teils der getesteten deutschen Jugendlichen erschreckend schlecht war. Ein ähnliches Ergebnis ergab die PISA-Studie 2003 für Österreich:

1/5 aller österreichischen Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs kann trotz 8 bis 9 Jahren Schulbesuchs laut PISA nicht ausreichend fließend lesen und den Sinn des Gelesenen verstehen. Der Anteil an Schülern an den untersten Kompetenzstufen („Lese-Risikoschüler/innen“) liegt in den Polytechnischen Schulen bei 54% und den Berufsschulen bei 39%.

Der Anteil der SchülerInnen welcher der "Risikogruppe" im Bereich Lesen zugerechnet wird, ist von 14% auf 20% angestiegen. Es handelt sich dabei um den drittgrößten Anstieg aller Vergleichsländer.
Lesen in Tirol: Lesekompetenz laut PISA Studie 2003 stark gesunken

 

Zahlen die aufrütteln müssen, weil sich hinter diesem Fünftel aller SchulabgängerInnen eines Jahrgangs potentiell die funktionalen Analphabeten von morgen verbergen.

Was sind die Ursachen für Analphabetismus?

Eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass es einer großen Anzahl an SchülerInnen nicht gelungen ist, ihre Lese- und Schreibfertigkeiten zu festigen, liegt vermutlich daran, dass für das Lesen- und Schreiben-Lernen bisher nur die ersten beiden Volksschulklassen vorgesehen waren. Danach hatten die SchülerInnen kaum mehr die Möglichkeit, vorhandene Defizite aufzuholen. Erst mit der verpflichtenden Durchführung des Salzburger-Lese-Screenings an Österreichs Volksschulen werden die Lesefähigkeiten der SchülerInnen gezielt getestet und können gezielt entsprechende Leseförderungsmaßnahmen angeboten werden.

vgl. dazu: Die Tiroler Lesekompetenz: Leseschwachen Kindern kann geholfen werden.

Als Ursachen für „funktionalen Analphabetismus“ lassen sich eine Vielzahl von einander bedingenden und sich verstärkenden Faktoren nennen:

  • Negative Erfahrungen im Elternhaus und in der Schule
    • starke psychische Belastung der Kinder sowohl zu Hause als auch in der Schule
    • eine untergeordnete Rolle der Schrift in der Familie
    • schwere Strafen bei Schulversagen
  • Geringes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
  • Versagensangst
    • fehlendes Selbstwertgefühl
    • Resignation und Mutlosigkeit
    • Wut gegen sich selbst

aus: Sven Nickel, Funktionaler Analphabetismus

 

Eine erste Studie an deutschen Volkshochschulen, an der 1.015 Personen aus Alphabetisierungskursen teilgenommen haben, kam zu folgenden interessanten Ergebnissen:

nur 38% der Befragten hatten einen Schulabschluss

57 % besuchten die Sonderschule
38% besuchten die Hauptschule und
5% besuchten eine Realschule

71% der Befragten verfügten über keine Berufsausbildung
21% hatten eine Lehre abgeschlossen
8% konnten noch andere Ausbildungen abschließen

41% der Befragten waren arbeitslos
34% waren angestellt
4% waren Gelegenheitsarbeiter
2% waren selbständig
13% befanden sich in staatlichen Fördermaßnahmen und
6% der Befragten waren pensioniert

Apoll: Ergebnisse der LuTA-Studie

Auch in der persönlichen Lebenssituation unterschieden sich die Befragten von der Gesamtbevölkerung:

51% der Befragten in der Altersgruppe der 34 – 44-Jährigen lebten in keiner festen Beziehung. Im Vergleich dazu lag der Wert in der Gesamtbevölkerung zwischen 15% – 18%. 

In Österreich gibt es dazu keine vergleichbaren Zahlen, auch unterscheidet sich das Schulsystem doch zu stark, um die Ergebnisse direkt auf Österreich übertragen zu können. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen einer schlechten schulischen Ausbildung und „funktionalem Analphabetismus“ findet sich aber bestätigt.


Schreibversuche von Erwachsenen mit Schreibproblemen.

 

Was kann gegen Analphabetismus unternommen werden?

Eine ganz besondere Bedeutung im Kampf gegen den funktionalen Analphabetismus weist Sven Nickel vom deutschen Bundesverband Alphabetisierung der Prävention zu, die vor, in, nach und neben der Schule ansetzen muss.

Die Schule ist durch ihren Bildungsauftrag, allen Schülerinnen und Schüler Lesen und Schreiben zu lehren, die wichtigste Einrichtung, wo eine Prävention von funktionalem Analphabetismus ansetzen muss. Nickel meint dazu:

"Wenn die Betroffenen die Schule verlassen, (...) dann scheint ihnen zunächst nicht bewußt zu sein, was es heißt, nicht lesen und nicht schreiben zu können.“ (Egloff 1997). Das bedeutet: Schule hat es bei diesen Schülern weder verstanden, die Bedeutung schriftsprachlicher Kompetenzen für gesellschaftliche Partizipation erfahrbar zu machen, noch Schrift als persönlich sinnvoll erleben zu lassen. Lesen und Schreiben ist für funktionale Analphabeten ohne subjektive Bedeutung geblieben, ein isolierter Lehrinhalt ohne direkten Bezug zum lernenden Subjekt und ohne Einbindung in schriftkulturelle Tätigkeiten.

aus: Sven Nickel, Funktionaler Analphabetismus

 

Für den Kindergarten empfiehlt Nickel, einen spielerischen Umgang mit Sprache anzuregen, wie z.B. Silbenspiele sowie Kontexte für die Kinder zu schaffen, in denen ihnen die Bedeutung des Lesens und Schreibens vermittelt wird. Gerade für Kinder aus Familien, in denen Lesen und Schreiben keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Erfahrung des Umgangs mit Lesen und Schreiben besonders wichtig.

Als besonders erfolgreich haben sich bisher Versuche gezeigt, die Eltern über Schule und Kindergarten (...) in das Lernen der Kinder mit einbezogen haben. Die Eltern konnten auf diesem Weg nicht nur viel über Kinder erfahren, sie erhielten auch vielfältige Impulse für eine Veränderung im häuslichen Umfeld.

aus: Sven Nickel, Funktionaler Analphabetismus

 

Als interessante Anregungen für weitere Präventionsfelder nennt Nickel die Bereiche Erwachsenenbildung, Familie, Peer-Group, Arbeitsfeld und Gesellschaft.

Für den Unterricht mit funktionellen Analphabeten nennt Nickel zwei zentrale Kernpunkte bei der Förderung:

  • Schaffung emotional positiv besetzter, schriftsprachlicher Erfahrung und
  • Veränderung des negativen Selbstkonzepts / des geringen Zutrauens in die eigenen Fähigkeiten

Wie stellt sich die Situation in Tirol und Österreich dar?

In Tirol werden an den Volkshochschulen in Innsbruck und Reutte und am Berufsförderungsinstitut in  Innsbruck Alphabetisierungskurse für Personen mit Deutsch als Fremdsprache angeboten. Für Personen mit deutscher Muttersprache, also Menschen bei denen ein funktionaler Analphabetismus vorliegt, gibt es derzeit keine Angebote.

Anders stellt sich die Situation in den meisten anderen österreichischen Bundesländern dar.

Zur Zeit gibt es in Österreich vier Alphabetisierungsinitiativen, die regelmäßig Kurse anbieten: die Volkshochschulen in Wien Floridsdorf und Linz, die ISOP (=Innovative Sozialprojekte) GmbH in Graz und der Verein abc in Salzburg. Auf der Basis des im Laufe der letzten Dekade erarbeiteten Know-hows haben sich diese vier Institutionen entschlossen, das „Netzwerk Alphabetisierung“ zu gründen, um gemeinsam und in Zusammenarbeit mit interessierten Anbietern ein österreichweit flächendeckendes Angebot an Alphabetisierungskursen zu entwicklen.

Zusätzlich zu den Einrichtungen des Netzwerkes bieten in Österreich noch folgende Institutionen Alphabetisierungs- und Basisbildungskurse an:

  • Volkshochschule Götzis
  • Volkshochschule Bregenz
  • Volkshochschule Bludenz
  • Volkshochschule Klagenfurt
  • Bildungs- und Heimatwerk Niederösterreich
  • Volkshochschule Meidling

Abschließend noch ein Text, den eine Kursteilnehmerin des „abc - Lesen und Schreiben für Erwachsene“ in Salzburg verfasst hat, in dem sie sehr offen über sich selbst und die Rolle des Lesens und Schreibens in ihrem Leben schreibt:

 

Lesen und Schreiben ist wichtig, aber längst nicht alles auf der Welt

Dieser Satz ärgert mich, weil so etwas nur jemand sagen kann, der selbst mit dem Schreiben keine Probleme hat. Für mich war es sehr lebensbestimmend und hatte einen hohen Stellenwert. Habe mich so hineingesteigert, dass ich mich dumm und minderwertig gefühlt habe. Ganz zu schweigen von der Angst, etwas schreiben zu müssen. So richtig Angst mit Schweiß und was sonst noch dazu gehört. Auch sich gewisse Arbeiten nicht zuzumuten, sich nicht bewerben auf Grund der schlechten Rechtschreibung, Angst ausgelacht zu werden.

Hinzu kommt noch die Sorge, dass es meinem Sohn gleich gehen könnte. Ich setzte ihn oft unter Druck. Das ging leider auch oft nach hinten los und belastete ihn sehr. Das war für mich sehr schlimm, aber erst recht ein Ansporn etwas dagegen zu tun. Zum Glück habe ich erfahren, dass es „Lesen und Schreiben für Erwachsene“ gibt. Jetzt geht es mir schon viel besser, habe auch gelernt mit dem Problem umzugehen und dazu zu stehen. Es ist ein sehr großer Druck weg.
Angelika (29 Jahre), geschieden, ein Kind, Altenbetreuerin

 

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Weiterführende Links:
Netzwerk Alphabetisierung
Portal Zweite Chance: Ich will schreiben lernen
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland

 

Andreas Markt-Huter, 23-01-2005 (bearbeitet: 25-01-2007

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