Jo Cotterill, Eine Geschichte der Zitrone
„Jemand anders fängt mich auf. Diesmal, nur dieses eine Mal, muss ich mich nicht selbst auffangen. Ich muss nicht selbst innerlich stark sein, weil jemand anders für mich stark ist. Was für eine Erleichterung.“ (89)
Der Tod von Calypsos Mutter hat tiefe Spuren bei ihrer Familie hinterlassen. Seit fünf Jahren lebt die elfjährige Calypso allein mit ihrem Vater, der sich immer mehr in seine Arbeit als Korrektor vergraben hat und immer weniger wahrnimmt, dass er noch eine Tochter hat, um die er sich kümmern sollte.
Calypsos Vater ist über den Tod seiner Frau nie richtig hinweggekommen, sodass es ihm schwerfällt, eine enge emotionale Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Calypso leidet darunter, weil es ihr als Schwäche ausgelegt wird, wenn sie traurig ist, aber auch weil sie sich um ihr Essen und den Haushalt selbst kümmern muss, während ihr Vater bei seiner Arbeit nicht gestört werden will.
Als Calypso in der Schule die gleichaltrige Mae kennenlernt, eröffnet sich ihr plötzlich eine neue Welt. Von den anderen Kindern als Außenseiterin gemieden, trifft sie unverhofft auf eine Seelenverwandte, die wie sie selbst Literatur und Bücher liebt. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten entsteht eine tiefe Freundschaft und Calypso erlebt bei Maes Familie erstmals, wie ein Familienleben aussehen kann.
Ihr erscheint alles neu. Für Calypsos Vater sind innere Stärke und Unabhängigkeit das Wichtigste, um die Schmerzen und Schicksalsschlägen des Lebens zu meistern. Emotionen, Gefühle und Auseinandersetzungen haben dabei keinen Platz. In Maes Familie wird häufig wild gestritten und anschließend wieder versöhnt. Das bereitet Calypso anfangs Schwierigkeiten, weil sie selbst es immer vermeidet ihrem Vater gegenüber Ärger oder Traurigkeit zu zeigen, damit er sie für innerlich stark hält.
Mit der Zeit beginnt Calypso zu erkennen, dass in ihrer Familie einiges schiefläuft. Während in Maes Familie sich die Eltern um die Kinder kümmern und für den Haushalt und das Essen sorgen, läuft es bei Calypso genau umgekehrt. Ständig muss sie sich um den Haushalt kümmern, für sich und ihren Vater kochen oder ihn daran erinnern Lebensmittel zu kaufen und wenn sie sich traurig fühlt, ist er nicht einmal imstande sie richtig zu umarmen. Die Erfahrungen mit Maes Familie bringen Calypso dazu einiges in Frage zu stellen.
Jo Cotterill erzählt die berührende Geschichte eines Mädchens, das durch einen Schicksalsschlag in eine Rolle gedrängt wird, von der sie vollkommen überfordert ist. Überaus glaubwürdig und realistisch wird ein Verhältnis zwischen Vater und Tochter geschildert, zwischen denen der Tod der Ehefrau und Mutter steht. Während der Vater glaubt Gefühle kontrollieren und verbannen zu müssen, um Schmerz und Leid zu widerstehen, entdeckt das Mädchen, dass nur zugelassene und gelebte Gefühle letztendlich befreien können.
„Eine Geschichte der Zitrone“ ist überaus empfehlenswerter Kinder- und Jugendroman, der durch seine Sprache und sein tiefes psychologisches Einfühlungsvermögen zu überzeugen weiß und der nicht nur junge Leserinnen und Leser von der ersten Seite in seinen Bann zu ziehen vermag. Eine wunderschön erzählte Geschichte in einer hervorragenden Übersetzung, die zu lesen sich lohnt.
Jo Cotterill, Eine Geschichte der Zitrone. Übers. v. Nadine Püschel [Orig. Titel: A Library of Lemons], ab 12 Jahren
Hamburg: Carlsen Verlag 2016, 256 Seiten, 17,50 €, ISBN 978-3-551-56036-0
Weiterführende Links:
Carlsen Verlag: Jo Cotterill, Eine Geschichte der Zitrone
Homepage: Jo Cotterrill (engl.)
Andreas Markt-Huter, 04-04-2018