Regina Dürig, Federn lassen

regina dürig, federn lassenWährend die einzelne Feder als etwas Edles gilt, immerhin verdanken wir dem Federkiel einen Großteil unserer Schriften, gilt der Vorgang für ihre Gewinnung als etwas Brutales. Das Federvieh entgeht dabei oft knapp einem Räuber, indem es Federn lässt. Ähnliches trägt sich in der Erziehung eines Individuums zu. In regelmäßigen Abständen muss es etwas von seiner Identität abwerfen, damit es von den Zugriffen der Gesellschaft halbwegs ungeschoren davonkommt.

Regina Dürig überrascht noch vor Beginn der Lektüre mit zwei Besonderheiten: Einmal ist es die Verwendung des Genres Novelle, und zum anderen das spitze Hochformat des Buches, das als langer Schaft einer Feder ausgeführt ist. Durch dieses Layout ist der Text zu einem gedanklichen Longdrink verformt, in einer Zeile stehen kaum mehr als drei Wörter. Man beginnt daher automatisch mit dem Scrollen, obwohl es am Papier aussichtslos ist, dass dadurch der Text weiterginge. Die einzelnen Zeilen sind offensichtlich als Federäste gedacht, die ineinander verkeilt dann erst die Federfahne ergeben. Und der Ausdruck Novelle weist darauf hin, dass alle Zeilen zusammen gebündelt eine „unerhörte Begebenheit“ ausmachen, die ja das Wesen einer Novelle ist.

„Federn lassen“ ist also das Hauptmerkmal eines Erziehungsprozesses, in etwa vierzig Abschnitten wird eine Protagonistin hergerichtet und zusammengeschliffen für das Leben. Stets taucht diese ominöse Eingangsformel einer Sequenz auf, die an einen schlechten Geburtstagsgruß erinnert.

„Du bist vier / und spielst am liebsten / mit dir alleine“ (14) | „Du bist zwanzig / und bist die letzte die / drankommt beim / Getränkebezahlen“ (61) | „Du bist achtunddreißig / in einem Hotelzimmer das / trotz Fliesen nach nassem Teppich / riecht“ (100)

Die Regieanweisung zu diesen prägenden Begebenheiten funktioniert erstaunlich gut, eine Altersangabe genügt, um im Leser alle Altersangaben in Filmen, Lektüren und Zeremonien abzurufen und eine erinnerte Geschichte zu starten. Die kargen Ortsangaben wie Allein, Lokal oder Hotelzimmer tun ein Übriges, um sogenannte Mustergeschichten anzuwerfen.

Wenn einmal die Erwartungshaltung ausgelöst ist, treten verlässlich die zwei Grundhaltungen eines jeden Erziehungsprozesses auf: Bestätigen und Abweichen. Für die Protagonistin gibt es oft Anlass zum Schmunzeln, wenn das Leben so funktioniert, wie es die Lehr-Geschichten erzählen. Das Federn-Lassen besteht also darin, dass etwas antizipiert wird, die Heldin wirft ihre Federn freiwillig ab und füttert damit die Erwartungen rundum. Im Falle des Widerstands freilich werden die Federn ausgerissen, trotz aller Vorbereitungen tritt die Gewalt aus heiterem Himmel auf. Die Gewalt hat das Überraschungselement auf ihrer Seite, weshalb man ihr kaum unversehrt und unzerstört begegnen kann. Für die Leser sind diese „Gewaltsituationen“ mit Sternchen gekennzeichnet, die als Warnung dienen, dass es jetzt nicht jugendfrei zugeht. Dieses Paradoxon beschäftigt ja die Pädagogik seit Jahrhunderten, dass die Gewalt sich nicht virtuell stilllegen lässt, sondern im entscheidenden Augenblick immer roh und „gewaltig“ ausbricht.

Die einzelnen Sequenzen sind als Langgedichte in Prosa ausgeführt und haben etwas von der Melancholie der Beat-Balladen an sich.

Die Zuneigung als Nachtblindheit, das echte Spielen mit sich allein, die Vollendung einer halben Portion, das Undurchdringliche von Stoff, das Glück einer überraschenden Landung und das Herumgeistern in einem dritten Stock sind Scharniere, an denen die Novelle jeweils die Richtung ändert. Zusammen ergeben diese Stationen eine logische Route durch das eigene Leben, wobei eins auf das andere aufbaut. Im Vergleich mit einer Bahnstrecke könnte man sagen, die Stationen sind von einander abweichend bedeut- und einprägsam, aber die Spurweite bleibt verlässlich gleich.

Aus dem Streckennetz der Biographie ragen freilich Episoden hervor, die das I-Tüpfelchen einer Identität abgeben, weil sie den Menschen dahinter unverwechselbar und einmalig machen.

So geht die Überschrift Asphalt über in eine Kanüle, die in die Adern der Heldin hineinführt. Langsam kehrt das Bewusstsein zurück, es muss etwas geschehen sein, was außerhalb eines Tagesplans abgelaufen ist. Über die Kanüle lässt es sich nur schwer kommunizieren, die Welt draußen ist plötzlich eine ganz andere geworden. (75)

Während es sich beim Asphalt um einen physischen Unfall handelt, geht es bei „Wittgenstein“(88) um einen Denkunfall. Die Heldin sitzt in einem Istanbuler Lokal einem Visavis gegenüber und versucht, eine Sprache zu finden, die von beiden Anwendern geteilt werden kann. „wenn jemand von starken / Schmerzen spricht / können wir nur Schmerz / verstehen der für uns / stark ist nicht stark für / die andere Person“.

Wie bei einer geglückten Novelle üblich, stellt sich zumindest bei der Heldin ein großes Glücksgefühl ein. Freilich muss die Glücksformel auf Englisch gesagt werden, damit sie die Kraft eines Popsongs ausspielen kann. Nach einem sexuellen Elementarereignis in einem Hotelzimmer, wobei die Schwerkraft die Wände hochgeht, sprudelt es final heraus:

„actually / I have been / pretty lucky / so far“. (101)

Regina Dürig, Federn lassen. Novelle
Graz: Droschl Verlag 2021, 101 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-99059-071-3

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Regina Dürig, Federn lassen
Homepage: Regina Dürig

 

Helmuth Schönauer, 29-05-2020

Bibliographie

AutorIn

Regina Dürig

Buchtitel

Federn lassen

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

101

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-99059-071-3

Kurzbiographie AutorIn

Regina Dürig, geb. 1982 in Mannheim, lebt in Biel.