Slavoj Žižek, Pandemie!
Im Schrecken dient das Rufzeichen als kurzes Atemholen, um die Dimension des Desasters für einen Augenblick in den Griff zu bekommen. Pandemie! (mit Rufzeichen) entspricht dem Pest! im Mittelalter, oder auch dem Alarm Feuer!, der in allen Sprachen wirkt.
Slavoj Žižek schlägt als zeitgenössischer Philosoph sofort einmal Alarm. Pandemie! Dieser Begriff umspannt nicht nur die ganze Welt, sondern auch den gesamten Wortschatz mit all seinen Begriffen.
Es ist noch nicht klar, was dieser Schock für die Welt bedeuten wird, aber in spontanen Hochrechnungen der Begriffe zeigt sich, dass so gut wie alles sich verändert. Nichts wird mehr so sein, wie wir es einmal verschriftlicht haben.
In zwölf Aufsätzen und einem angehängten Brief an Freunde testet der Philosoph aus, was es im Einzelnen bedeuten könnte. Er bedient sich dabei sogenannter Modulationen, wie wir sie mittlerweile von Epidemiologen kennen.
Das neue Schlüsselwort menschlichen Zusammenseins heißt „Abstand“, das mittlerweile in jedem Satz verwendet wird, wenn eine Botschaft der öffentlichen Hand für Menschen im öffentlichen Raum vermittelt werden soll. Schlagartig werden Abstandsdefizite sichtbar, in den Verkehrsmitteln, am Gehsteig, in den Amtsräumen und Schulen, selbst die Bedürfnisanstalten sind zu eng gebaut, um darin virenfrei die Ausscheidungen versenken zu können. Aus philosophischer Sicht lässt sich dieser Abstandskult mit der Botschaft „noli me tangere“ vergleichen. Dieses Verhalten soll ja angeblich der auferstandene Religionsstifter seinen Jüngern verordnet haben, die ihn abgreifen wollten. Wenn man nichts angreifen kann, lässt sich auch der Wahrheitsgehalt nicht auf Anhieb überprüfen. So hat das Virus gleich einmal etwas Religiöses an sich, man kann es nicht berühren, sondern wird von ihm berührt.
Eine andere gängige Fügung, mit der die Herrschenden dieser Welt ihre Untertanen in Schach halten, mündet in der Fügung: „Wir sitzen alle im gleichen Boot.“ Mit diesem Mythos räumt der Autor gleich auf, indem er drei Boote vorstellt, auf denen das Virus wirkt. Am Beispiel China, den USA und Israel werden drei differenzierte Vorgehensweisen sichtbar, die den jeweiligen Systemen entsprechen, Kommunismus, Populismus und Militarismus bekämpfen das Virus auf autochtone Weise. Zynisch könnte man sagen, das Virus kämpft zurück, indem es für jede Kampfart eine eigene Mutation entwickelt.
Das häufigste Wort, das den Seelenzustand der Betroffenen beschreibt, ist „müde“. (25) Alles, was keine Klarheit verschafft, führt zur Müdigkeit, und die Pandemie ist wie geschaffen dafür, müde zu machen. Nun gibt es aber zwei Sorten von Müdigkeit, jene, die allgemein ohne Grund abgeschlafft macht, und die andere, die nach Arbeit, Sport oder Sitzen an einem Text entsteht. Die Müdigkeit ist immer Resultat eines Kampfes geben sich selbst. (27) Mit sich selbst ins reine gekommen ist die Müdigkeit durchaus eine Belohnung. Das ermüdende Virus könnte im Umkehrschluss dafür genutzt werden, mit sich selbst wieder einmal klar zu kommen.
Das Virus wird bildhaft gerne als Sturm gesehen, der über den Kontinent fegt. Aber in seinem Lee schlummern die bisherigen Hauptthemen weiter und brechen sich zwischendurch Bahn, wie etwa an der Grenze Europa-Türkei, wo der dortige Herrscher im Windschatten des Sturmes austestet, ob sich schon wieder Flüchtlingsströme in die EU lenken lassen. (36)
Manche Journalisten und andere Texter beklagen auch, dass es oft an Bildern fehle, um etwas Unsichtbares wie die Pandemie darzustellen. Hier empfiehlt der Philosoph einen Blick ins Kino, fast alle Katastrophenfilme funktionieren nach dem Verbreitungsmodell eines Virus, das Grauen entsteht zwischen den Pixeln der Leinwand, oft lautlos und unsichtbar. (41)
Auf der Suche nach handfesten Lösungen werden in pandemischen Zeiten allerhand verschüttete Gottheiten und Zeremonienmeister aus der Schatztruhe der Unterbewusstseins geholt. Der Kapitalismus holt gerade auf der Vorderseite wieder einmal seine animistische Gottheit „freier Markt“ ans Tageslicht, während er sich an der Hinterseite vom Staat unterstützen lässt. Das eingesetzte Spielgeld gerät dabei sofort an die Börse, wo es so gut wie alles in die Höhe treibt, was halbwegs nach einem Kurs ausschaut.
Beruhigen Sie sich, wird von offizieller Seite gerufen, weil alle wissen, dass die Panik vor der Haustüre stehen könnte. Ein Vergleich mit der Sterbetheorie von Kübler-Ross zeigt, dass man dem Tod und der Pandemie ähnlich begegnen könnte. Die fünf weltberühmten Schlagwörter im Umgang mit dem Tod sind: Nicht-wahrhaben-Wollen | Zorn | Verhandeln | Depression | Akzeptanz.
Wie bei allen Vorgängen, die sich noch nicht recht mit einem passenden Wortschatz abwickeln lassen, ist der Witz sehr hilfreich. In einer ersten Stufe lohnt es sich, vorhandene alte Witze mit dem Virus zu unterlegen. Das ist zwar im einzelnen nicht lustig, aber der Witz funktioniert dann wie ein Cartoon, in dem eine Katze auch dann noch weiterrennt, obwohl sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Wenn sie dann nach unten schaut, stürzt sie ab. Soll heißen, beim Corona-Witze-Erzählen nie nach unten schauen, ob der Boden für einen Witz noch tragfähig ist. (97)
Nach zwölf Aufsätzen mit philosophischen Anmerkungen und Gebrauchsanweisungen sitzt der Autor in einem Innenraum, und genießt den Lockdown. Er ist ohnehin der Typ, der in einer fremden Stadt lieber im Hotel sitzt, und dort einen Text über ein Gemälde verfasst, anstatt sich dieses im überfüllten Museum der Stadt anzusehen.
Slavoj Žižek, Pandemie! COVID-19 erschüttert die Welt. A. d. Engl. von Aaron Zielinski. [Orig.: Pandemie! COVID-19 Shakes the World, 2020].
Wien: Passagen Verlag 2020, 110 Seiten, 15,30 €, ISBN 978-3-7092-0441-2
Weiterführende Links:
Passagen Verlag: Slavoj Žižek, Pandemie!
Wikipedia: Slavoj Žižek
Helmuth Schönauer, 14-06-2021