Slavoj Žižek, Pandemie! II
Die Größe eines Themas misst der Bibliothekar mit dem Meterband, wenn er die Regale abgeht. Zeigt das Verzeichnis lieferbare Bücher für das erste Corona-Jahr nur 217 Treffer, so sind es im zweiten Jahr vom ersten Quartal hochgerechnet bereits 600. Und natürlich ist kein Ende der Publikationen abzusehen, bei einem so großen Thema.
Der Philosoph Slavoj Žižek nennt seine Schriften Epochen-bildend „Pandemie!“ und nummeriert sie durch. Noch vor dem zweiten Pandemiejahr liefert er bereits den zweiten Band, worin fünfzehn Aufsätze und ein Anhang versammelt sind.
Das Konzept dieser Schriften läuft in etwa nach dem Muster ab: Vorfall als Pressedarstellung, Reflexion durch fiktionale Künste (Film, Serien, Netflix), Verbindung zu philosophischen Thesen, Ausblick in eine verquere Zukunft.
Hintereinander gelesen ergeben sich daraus Seitenstränge der Geschichtsschreibung, die sich als pure Chronik, Kunsttheorie, psychologische Agenda und philosophische Sciencefiction lesen lassen.
In vielen Texten agiert der Trumpismus ein wichtiges Movens, wodurch sich gerade die Pandemie bestens spiegeln lässt nach dem Motto: Trump agiert ähnlich perfekt obszön wie ein Virus. Nach einem halben Jahr ohne Trump scheinen diese Thesen erst richtig im Bewusstsein zu greifen, da seine Wesenszüge von der Alltagsberichterstattung entkoppelt sind.
Grob gesprochen ist Trump das Gegenteil von Stalin. Währen dieser alle Beteiligten vernichten ließ, wenn sie nicht für ein makelloses Bild von totalitärer Herrschaft sorgten, geht Trump gegen alle vor, die nicht seiner Lust nach Obszönität huldigen. So pervers und falsch kann etwas gar nicht formuliert sein, dass es nicht die Herrschaft des „Scheißdinix“ bestätigen würden.
Diese surreale Haltung gegenüber der Wissenschaft und ihren annähernd objektiven Narrativen bewährt sich, wenn es um das Verhalten gegenüber einer von manchen als surreal empfundenen Bedrohung durch das Virus geht.
Die Aufgabe des Philosophen besteht in diesem Schlachtfeld von Un-, Nicht- und Gegenargumenten, dass er sich für kein Thema zu schade sein darf. Warum schreiben Philosophen plötzlich über Spargel und Erntehelfer, fragt der Autor, um dabei seine Methode zu erklären. Das winzigste Detail einer Fernsehshow kann oft besser den Zusammenhang der Dinge erklären als das große Drehbuch der Abendshow.
So weigert sich in einer Show jemand, eine Maske zu tragen, weil er dann wie ein Trottel aussehen würde. „Lieber sterbe ich, als dass ich wie ein Trottel aussehe!“ Dieses seltsame Ranking von Entscheidungen zeigt, wie disparat das Virus auf die bisher gepflogenen Entscheidungen einwirkt. Viren wirken nämlich wie Untote, wenn sie mit alt bewährten Begriffsketten in Berührung kommen. Da zeigt dich der Begriff der Freiheit plötzlich verwundbar, denn nur das überwachte und verkabelte Individuum scheint gegen die Virenketten eine Chance zu haben. Während Begriffe wie „Überwachungskapitalismus“ oder „verkabeltes Gehirn“ (21) für freiheitsliebende Menschen das Schlimmste darstellen, zeigt China ungeniert, dass diese Maßnahmen als Überlebensmittel wirken.
In diesem Lichte erfährt auch der ehemals von der Sozialdemokratie hochgehaltene Tugend des Klassenkampfes eine neue Dimension. Das Aufmarschieren von Virenketten am ersten Mai ist noch nie so ins Leere gegangen wie während der Pandemie. Dabei hat sich gerade eine neue Klasse entwickelt, die nach einem ersten Mai verlangt: die geo-soziale Klasse der Pflegeberufe. (27)
Anhand der Schlagzeilen des letzten halben Jahres lassen sich auch unvergnügliche Fragen stellen. Warum ist die Klima-Bewegung jener von „Black lives matter“ gewichen? Und warum heißt es nicht „All lives matter“? (31)
Und dann die große Frage: Wo ist Greta? Welche Filme werden auf Netflix zurückgehalten? Warum boomen Sexpuppen? Wird die Zukunft berührungslos?
Der Autor sieht einen Trend zu verschiedenen Welten, hinter der Globalisierung tauchen Systeme auf, die nichts mehr miteinander zu tun haben.
Einen interessanten Denkversuch zur Theorie der abgeschlossenen Welt gibt es schon um 1800 bei Fichte, der im Text vom „geschlossenen Handelsstaat“ durchspielt, wie das setzende Ich für seine subjektiven Handlungen sich einen eigenen Staat schafft.
Dieser Meta-Subjektivismus erklärt vielleicht, warum es eine weitverbreitete Gedanken-Strömung gibt, die sich weigert, „Corona zu denken“. (117) In diese Kategorie gehört auch eine Unzahl von Witzen, die vom Denken ohne Denken berichten. Bei den Trumps gibt es etwa die Empfehlung, eine rote Pille gegen Corona zu schlucken. Die Empfehlung führt zu Verunsicherung, weil es so viele rote Pillen gibt, und niemand sagen kann, welche gemeint ist.
Aus seiner eigenen Denkwelt als Philosoph und Psychoanalytiker formuliert der Autor schließlich die neue Aufgabe der Philosophie. Sie wird mit der Psychiaterschaft zusammenarbeiten müssen. In einer Welt, wo alle einen Nervenzusammenbruch hinter sich haben, muss zuerst einmal der Psychiater aufräumen, ehe der Philosoph eine heilende Prognose zur Zukunft stellen kann.
Aber kein Stein bleibt auf dem anderen, schon gar nicht, wenn er in einem Denkmal verbaut ist. Weltweit werden die Statuen der alten weißen Männer gestürzt und ins Wasser geworfen. Den Gestürzten bleibt nur die Schadenfreude, dass das nichts an der Opferrolle der Opfer ändert.
Slavoj Žižek versucht, sich im Zynismus zurückzuhalten. Aber wenn dieser nun das probate Mittel wäre, um die Pandemie auszuschalten?
Slavoj Žižek, Pandemie! II. Chronik einer verlorenen Zeit. A. d. Engl. von Andreas Pöschl, [Orig.: Pandemie! 2. Chronikels of a Time Lost, 2020]
Wien: Passagen Verlag 2021, 170 Seiten, 22,60 €, ISBN 978-3-7092-0449-8
Weiterführende Links:
Passagen Verlag: Slavoj Žižek, Pandemie! II
Wikipedia: Slavoj Žižek
Helmuth Schönauer, 15-06-2021