Alexander Kluge, Zirkus / Kommentar

alexander kluge, zirkus - kommentarEin Künstler wird, solange er aktiv in der Kunst tätig ist, seine Biographie mit jedem Kunstwerk nachjustieren, wenn nicht gar neu schreiben, weil ja so viel Stoff da ist.

Alexander Kluge ist in mehreren Sparten unterwegs, seine Kunst ist es vielleicht, dass er zwischen den Sparten eine eigene poly-artistische Arena aufgemacht hat. Bei einem Kluge-Statement handelt es sich meist um ein Konglomerat aus Film, Bild, Text und Biographie. Seine Fans sind jedes Jahr überrascht, wie er Kunstwerk und Leben in permanenter Reprise neu gestaltet. Heuer hat er als dramaturgisches Leitmotiv den Zirkus gewählt, der ihn schon seit Kindertagen begleitet. Was um diesen Schlüsselbergriff herum geschieht, wird trocken Kommentar genannt.

Im Bildband „Zirkus / Kommentar“ kommt in einer logischen Assoziation alles an die visualisierte und betextete Oberfläche, was mit dem Zirkus zu tun hat. Dabei steht die eigentliche Nachricht wie immer zwischen den Zeilen, zwischen Emotion und Sachverhalt, zwischen Bild und Subtext.

Am Beispiel Sturmwarnung lässt sich das Verhältnis von Gewitter, Aufregung, Stress und Kalkül bis hin zur nüchternen Zeitmessung nachvollziehen.

„Sturmwarnung // Vom Harz herab drohte der Sturm. Der Anker für die Leinen, die das große Zelt sicherten, waren in den Lössboden tief eingerammt. Wir bildeten aus Käfigen und Wohnwagen einen Windschutz. Die Tiere waren auf der entgegengesetzten Seite zur Wetterrichtung untergebracht. Zwischen Sturmwarnung und Eintreffen der peitschenden Windstöße und des mauerartig gegen das Zelt rammelnden Regens lagen 20 Minuten.“ (48)

Der Kommentator sitzt abgeklärt in seinem eigenen hohen Alter, während er die evozierten Vorfälle sich als kleinem Buben auf die Augen drückt. Die Kunst dieses Erzählens besteht darin, das Erzählfeuer im jeweils anderen Kessel der Biographie unter Kontrolle zu halten. Der kindliche Standpunkt wird versachlicht, der des Alten mit brennbarem Nachschub unterlegt.

Auf diesem „Zwischenstandpunkt“ der Zeiten fußt auch das Erzählen mittels QR-Code. Wo man früher vielleicht umständlich eine Rezension eingebaut hätte, um eine filmische Sequenz zu erörtern, ist im Kommentar-Buch der entsprechende Code abgebildet mit Zeitangabe des Zitats. Ein Aufrufen der Film-Streifen lohnt sich auf jeden Fall, denn gerade das Wechselspiel zwischen den Medien eröffnet einen zusätzlichen Textraum, wenn das Auge zwischen Screen, Papier, Hintergrund und Leselicht hin und her scrollt.

Inhaltlich gesehen taucht zu allen Zeiten ein Zirkus in der Epoche auf, die jeweilige Zeit lässt sich gut in der Distanz darstellen, die zu einem Zirkus seit jeher eingehalten wird. Es beginnt mit dem aktuellen Corona-Zirkus, der in der Presse diesen Namen erhalten hat, weil er wegen der Pandemie stillgelegt werden musste. Da lange nicht klar ist, ob auch Tiere am Virus erkranken, erfährt der Zirkus eine zusätzliche Isolation.

Eine ähnliche Situation ergibt sich für die Zirkusse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Tiere zuerst an Futtermangel und später an Munitionsüberschuss eingehen, das heißt, sie werden mit den brach liegenden Kriegsmitteln getötet, um ihrerseits als Futter zu dienen.

Gerüche, Überlistung der Schwerkraft, Hybride Formen des Zirkus, der Zirkus als Kampfformation sind einige Kapitel überschrieben, die jeweils wie ein Lexikoneintrag dem Beitrag einen Drall geben, sodass daraus schließlich Auskunft entstehen kann.

Manches ist als Geschichte ausgelegt, anderes als verschmitzte Anekdote. Wie Elefanten eine Panik verhinderten, wie eine Elefantendelegation beim jüngsten Gericht spricht – wer kann nach so einer Überschrift das Buch zuschlagen? Neugierde erwecken bis über den Abspann und die letzte Seite hinaus, das ist die feine Kunst des Alexander Kluge!

Das Handwerk der Nachrichtengestaltung lässt sich erst bei genauerem Hinsehen enträtseln. So ist das Verhältnis Bild und Bildunterschrift seit jeher die größte Informationsquelle, um die Zusammenhänge in der Nachrichtenwelt zu verstehen. Einmal sind feierlich gekleidete Personen in einem Löwenkäfig zu sehen, der Löwe begutachtet vom Schemel aus die Menschen, als Unterschrift heißt es „katholische Hochzeit im Löwenkäfig“. Die Konnotation, die sich um das Wort katholisch aufbaut, fegt wie eine Informationsböe durch das Bild. Ist nun der Löwe katholisch, ist es der Zuschauer, sind es die Festgäste, oder wird einfach der Käfig katholisch gesegnet?

Ähnliche Verblüffung löst die simple Frage aus, was eigentlich nicht Arbeit ist. Dezidiert erwähnt sind: spielen, gähnen, beten, schlafen, grübeln, hassen, würgen, rauben, trocknen oder Witze erzählen. (70)

Eine Aufzählung hat übrigens zu jeder Zeit Platz und Funktion. In einem Kästchen, wie es für Warnschilder layoutet wird, lassen sich die wichtigsten Stationen nachlesen, wer oder was von Löwen zerrissen worden ist. Batty Hempel jun. 1889 in Steyr, Marguerite 1912 in Berlin während einer Probe, Bertha Baumgarten 1886 von Tigern, Paul Russel 1910 in New York von Leoparden. Die Aufzählung wechselt spontan das Metier und springt von Löwen über auf Tiger und Leoparden, wie es Kinder geradezu logisch vollführen.

Mit einem Paradigmenwechsel bekommt es auch der Vater des Autors zu tun, als dieser in den 1930ern als Tierarzt jeweils Pferde zu begutachten hat. Nach dem Film Maestro heißen alle Hengste rund um Halberstadt nach dem Filmhelden, wiewohl sie oft nicht einmal für Salami tauglich sind.

Politisch gesehen ist Zirkus eine Lebensform mit eigenen Spielregeln. Vielleicht hätte man den Kapitalismus ausrotten können, wenn man rechtzeitig mit den Mitteln des Zirkus dagegen angekämpft hätte.

Je mehr man liest, umso mehr Zirkus entdeckt man in sich selbst. Es ist die besondere Sehkraft, die von Alexander Kluge ausgeht, dass er den Zirkus in uns erwecken kann.

Alexander Kluge, Zirkus / Kommentar. Abb. QR-Codes
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 167 Seiten, 28,80 €, ISBN 978-3-518-43023-1

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Alexander Kluge, Zirkus / Kommentar
Wikipedia: Alexander Kluge

 

Helmuth Schönauer, 15-01-2022

Bibliographie

AutorIn

Alexander Kluge

Buchtitel

Zirkus / Kommentar

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

167

Preis in EUR

28,80

ISBN

978-3-518-43023-1

Kurzbiographie AutorIn

Alexander Kluge, geb. 1932, in Halberstadt, lebt in München.