Ronald Pohl, Der Vaghals

ronald pohl, der vaghalsDas Konzept des Ritter-Verlages besteht darin, jedes Buch zu einem eigenen Genre auszubauen. Die einzelnen Publikationen tragen folglich nicht nur einen unverwechselbaren Titel, sondern auch eine einmalige Gattungsbezeichnung am Cover. Wenn dabei dennoch handelsübliche Begriffe wie „Erzählungen“ auftauchen, so bedeutet das auf jeden Fall, dass diese Erzählungen nichts mit den kursierenden Texten dieses Genres zu tun haben.

Ronald Pohl ist Exponent einer Erzählform, bei der an der Textoberfläche scheinbar alles wie immer abläuft, sobald man aber an die Tiefenstruktur herangeht, ist nichts mehr so, wie es noch geschienen hat. Zwar gibt es Hauptpersonen, einen novellenähnlichen Plot und eine nachvollziehbare Geographie. In Wirklichkeit aber hängt nichts mit jedem zusammen, sodass sich selbst so antrainierte Elemente wie eine lineare Handlung jäh ins Gegenteil verkehren können und unter die Patina eines Stilllebens schlüpfen.

Unter dem seltsamen Titel Vaghals sind drei Erzählungen versammelt, die als Helden abgeschlagene Politiker, Giraffen und Landschaftsmaler ins Spiel bringen. Die Mehrdeutigkeit der Erzählungen lässt es durchaus zu, dass zwei Lektüre-Personen jeweils einen völlig anderen Text anzusprechen scheinen, wenn sie darüber reden. Das hat damit zu tun, dass die Erzählelemente wenig Hierarchie aufweisen, sodass entweder nur Haupt- oder nur Nebenfiguren auftauchen, je nachdem, wie heldengläubig die Lesenden sind.

„Der Gemeinde Untere“ lässt den unauffälligen Rohn zu Wort und Gedanken kommen. In der kleinen Gemeinde ist Vorwahlzeit, die Grenzen zwischen formalem Ritual und informeller Kommunikation sind verschwommen. Offensichtlich werden Kandidatenlisten für die nächste Wahl erstellt, Rohn macht sich Hoffnungen, einen Listenplatz zu ergattern.

Die Gespräche sind in diesem Klima zweckgebunden. Jede Erinnerung an früher kann einen Verbesserungsvorschlag nach sich ziehen, jede harmlose Äußerung zur Tagesverfassung ist vielleicht schon ein abschätziges Endurteil.

Selbst die Bilder von Glück zerfallen in politische Splitter. Ein harmloses Bild aus Kindertagen, als im Bilderbuch noch eine Dampflok auf dem Bahndamm kreischte, wird zu einer denunzierenden Aussage über eine verunglückte Verkehrspolitik.

Rohn hat seine Avancen noch gar nicht richtig geäußert, da formieren sich schon handfeste Widersacher, die offensichtlich die besseren Wörter für einen Lebenslauf akkumulieren. Für Rohn bleiben zwielichtige Fügungen wie „stillgelegt“, „abgewimmelt“ und „nie zur Wahl gestanden“.

Es bleibt offen, ob der Held sich zu Recht gekränkt und ausgestoßen fühlt oder ob ihm das politische System wirklich einen Streich spielt. In einem romantischen Anfall trägt Rohn einen Igel über die Straße. Dieser hat sicher einen Termin bei der Igelkommission und wird wahrscheinlich reüssieren, weil er einen stacheligen Schutzpanzer trägt.

Die titelgebende Erzählung „Vaghals“ (17) löst großes Rätselraten aus, zumal der Text plötzlich mit Roman überschrieben ist, als ob es um eine große Sache ginge. Neben übersetzerischen Abschweifungen ins Schwedische, wo der Vaghals durchaus als wagemutiges Unterfangen auftritt, sind alle Sinnkomponenten mit vage oder diffus denkbar.

Eine recht obszöne Sichtweise bietet freilich die Hauptfigur der Erzählung an, eine Giraffe, die aus bloßem Hals zu bestehen scheint. Als Fremdkörper und Fremdtier wird die Giraffe in einem Zoo gehalten, der dafür ein eigenes Gehege errichtet hat. Anlässlich einer Medikamentengabe wird die Anlage erweitert, indem rund um den Hals der Giraffe ein Gerüst gebaut wird. In der nun möglichen Draufsicht auf den Giraffenhals ergibt sich ein Bild von einem vaginaähnlichen Hals, der die üblichen Dimensionen sprengt. Jedenfalls stehen die Wärter vor einem Gigaorgan, durch das sie ein Medikament schleusen.

Wozu das Ganze, wozu dieser Vaghals-Mythos? In einer ersten Assoziation fällt einem vielleicht das Trojanische Pferd ein, mit dem die Bewohner letztlich überfordert sind. Was nun, wenn die Giraffe einen ähnlichen Auftritt zugesprochen bekommt, einen letzten Auftritt der Giraffenart, wobei die Bezeichnung Vaghals auf eine Gattung hinweist, die bald ausgestorben sein wird?

Wie begegnet man Tieren, die selbst vergessen haben, was artgerecht ist? Was macht man mit einer Tierart, die nur mehr im Bilderbuch vorkommt? In der Erzählung werden diese Fragen in fünf Kapiteln abgehandelt: Der Pflegling / Einsicht und Fernweh / Drohende Ohnmacht / Stadt Land Sumpf / Die Schlacht.

In der Schlacht etwa werden Keile in die Giraffe getrieben wie bei einer Panzerschlacht, eine Verlegung der Gliedmaßen ist aufwändig wie der Transport von Kriegsgerät, der Umgang mit dem Metapherntier ist ähnlich vulgär wie bei einer Schlacht zwischen Truppen.
In der dritten Erzählung „Donna Malerbas Hochzeit“ (53) wird die Lieblichkeit der Landschaftsmalerei auf die Probe diverser Geschäfte gestellt. Ein sogenannter Gloeden, hinter dem der Bildkünstler Wilhelm von Gloeden (1856–1931) gemeint sein kann, steigt in Sizilien an Land und gerät sofort in die sprachlichen Fänge des Ätna. In einer Fortführung des Projekts „Signor Mongibello“ wird dort weitererzählt, wo der 2020 publizierte Roman des Autors Ronald Pohl aufgehört hat.

Die Wörter werden wieder wörtlich genommen, etwa wenn ein fetter Frosch zu Tische sitzt, um die sogenannte Froschperspektive (57) abzugleichen. Kaum kommt die Rede auf die Ausbrüche des Ätna, taucht auch schon ein Agent auf, um diverse Versicherungspolizzen (61) zu verkaufen.

Man könnte die Erzählung ein fettes Sittengemälde nennen, worin Pflanzen, Naturgegebenheiten, Personen und Bräuche ihre Konsistenzen wechseln. Im Sinne einer vollendeten Metamorphose kann eine Hochzeit einen Versicherungsabschluss bedeuten, ein Gemälde ein opulentes Mahl, eine Frucht ein Gedicht. Knapp am Kalauer vorbei werden die Metaphern ausgereizt und je nach Bedarf personifiziert und anonymisiert.

Roland Pohl setzt mit seinen Texten die Erzählkunst der Lesenden in Gang, denn niemand hält es aus, diese Texte still zu lesen, ohne jemandem davon zu erzählen. Und bei diesem Nacherzählen kommt ständig etwas Neues heraus, immer in Sichtweise des Projekts „Vaghals“.

Ronald Pohl, Der Vaghals. Drei Erzählungen
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 139 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-648-2

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Ronald Pohl, Der Vaghals
Wikipedia: Ronald Pohl

 

Helmuth Schönauer, 11-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Ronald Pohl

Buchtitel

Der Vaghals. Drei Erzählungen

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

139

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85415-648-2

Kurzbiographie AutorIn

Ronald Pohl, geb. 1965, lebt in Wien.