Michael Krüger, Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah
Miese Stimmung bekämpft man in Literatur und Psychologie meist dadurch, dass man sie jemandem umhängt, damit man einen scheinbar konkreten Grund zum Ärgern hat. So ist das Wechselspiel zwischen diffusem und personifiziertem Ungemach ein weites Feld für reifes Erzählen, weil es kein eindeutiges Ende gibt.
Michael Krüger lässt seinen Ich-Erzähler gleich von der ersten Seite an gegen eine ungute Stimmung kämpfen. Dieser wartet am Pariser Flughafen auf seinen Flug zurück nach München, als ihm plötzlich alle Wartenden schräg, skurril und „schafsgesichtig“ vorkommen. Besonders fällt ihm ein Typ auf, der sich wie der späte Orson Welles gibt, aufdringlich, unangenehm, laut. Der Erzähler ahnt, dass es sich um eine längerfristige Sache handelt, die ihm da auf die Pelle rückt, sodass er später in München alles in ein Notizbuch schreiben wird, „was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“.
Diese Notizen werden vermutlich zu einer Erzählung führen, und diese wird in einem Buch enden, und alles wird mit Hilfe der Lesenden Teil des Literaturbetriebes werden.
Der Erzähler hat zu aktiven Zeiten eine Vermittlungsagentur für Künstler geführt, geblieben ist ihm der Blick für Idealbesetzungen. Hinter jedem Gesicht tut sich ihm ein Karteikasten auf, worin die Rollen gespeichert sind, die man dem Gesicht aufsetzen könnte.
Die Handlung geht gleich zu Beginn in eine unangenehme Verlängerung, das Flugzeug aus Lissabon verspätet sich um einen Tag, sodass die Passagiere in ein Hotel müssen. Für das „Vermittlungsgehirn“ bedeutet das, dass alle Geschichten mit dem Wort Lissabon im Fundus sofort aufpoppen und den Erzähler quälen. Obwohl die reale Lissabon-Maschine noch gar nicht da ist, sind die Lissabon-Geschichten schon vorbereitet im Kopf, damit das schöne Boarding durch Assoziationsketten schon beginnen kann.
Immer wenn der Kopf des Helden heftig unter Erinnerungsdruck steht, quetscht sich aus der Gedankenmasse dieser unangenehme Fremde hervor, der probehalber mit dem Vermerk „der Alte“ versehen wird, weil er sich namentlich nicht vorstellt. Jetzt im Hotel hat der Alte kein Geld, sodass die Kreditkarte des Erzählers herhalten muss. In dieser Phase gleicht der Alte übrigens dem aufgedunsenen Marlon Brando im Endstadium.
Der Alte nistet sich mit jeder Begebenheit noch heftiger in die Notizen und die Erzählung ein; längst in München zurück, sitzt er wie selbstverständlich in der Wohnung des Kunstvermittlers, er muss mühsam in ein anderes Stockwerk umgesiedelt werden, wo er erst recht lästig wird. Er lässt sich auch nicht mit einer Überrumpelungsaktion dem Sperrmüll beimengen, im Gegenteil, kaum ist es ein paar Augenblicke ruhig um ihn, kommt er als Lieblingsfigur einer Clowneske oder tragende Figur eines Kunststücks zum Vorschein. Der Alte ist ein Mann von Welt, weshalb er nirgends Platz hat.
Richtig intensiv wird es, wenn man am Balkon sitzt und die alten Geschichten für ein Erzählprojekt zu ordnen versucht.
Und dann, als die Eintragungen im Notizbuch fixiert sind, ist der Alte plötzlich weg und man trifft sich flüchtig am Friedhof, wo er angeblich begraben wird. Er hat sich von einem Hochhaus gestürzt. Nach dem Begräbnis lässt sich der Erzähler mit dem Taxi zu diesem Hochhaus bringen, er besteigt es, und plötzlich ist alles leicht und luftig, als ob er sich in irgendwas hinunterstürzen würde.
Und alles war viel schöner, würdevoller und einsamer als in meinen Träumen. (218)
Michael Krüger bedient sich dieser seltsamen Figur, wie wenn er sich eine Kasperle-Haut über die Hand gezogen hätte, um dem Publikum etwas vorzuzeigen, das jenseits des aufgeführten Stücks ist. – Das Thema ist der Umgang mit Künsten und Träumen, ihre Verfestigung für das Archiv und das endgültige Hinausgleiten aller Schwerkräfte durch den Tod.
Der Alte als „künstliche Universalfigur“ kann als personifiziertes Stimmungsbild gelesen werden, als Alter Ego, das auf Missverständnisse und Fehltritte spezialisiert ist, als Eindringling, der einem vertuschten Kindheitstraum entsprungen ist, und schließlich als rhetorische Gegenfigur zu einem Essayisten, der eine letzte Runde durch sein künstlerisches Schaffen als Vermittler dreht.
Als Leser schlägt man sich entweder auf die Seite des Alten oder des Erzählers, und schon hat man den schönsten dialektischen Argumentebogen, worin die Kunst über die Arbeit siegt, der Notizblock über den Alltag und das Mysteriöse über das Banale.
Michael Krüger, Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah. Eine Erzählung
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022 (= st 5230), 219 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-518-47230-9
Weiterführender Link:
Suhrkamp Verlag: Michael Krüger, Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah.
Wikipedia: Michael Krüger
Helmuth Schönauer, 28-12-2022