Rudolf Habringer, Diese paar Minuten
Während man bei einem Roman davon ausgeht, dass er zum Augenblick seiner Vollendung mit Ort und Zeit als Quelldaten fixiert wird, zeigen sich Erzählbände oft als Bunter Text-Kessel, der an mannigfaltigen Orten aufgekocht und über Jahrzehnte eingedickt worden ist.
Rudolf Habringer nennt seine Titel gebende Erzählung „diese paar Minuten“. Dabei geht es um einen jähen Zeitanschnitt, von dem erst hinterher klar ist, dass er einen wesentlichen Einschnitt in das Leben verursacht hat. Das Thema ist schier unendlich: Wie verlaufen Schicksalslinien in der Fläche der Gesellschaft? Wer trifft wann auf wen und verursacht dabei ein Unglück? Wie lange muss pure Zeit unter Druck stehen, ehe sie sich entlädt und Helden zum Implodieren bringt?
Die zwölf Erzählungen sind in den Jahren 2005 / 2020–2023 entstanden, als Schreiborte sind Walding, Oberzell, Berlin und Ried im Innkreis angeführt. Orts- und Zeitangaben sind ein vager Versuch, die allgemeingültigen Themen der Erzählungen an allen möglichen Orten aufzuspüren.
In den Erzählungen leben die Helden ahnungslos vor sich hin, ehe sie dann jäh aus dem Tagesplan, wenn nicht gar Lebensplan geworfen werden.
„Diese paar Minuten“ (24) handelt vor einer Affäre, die geheim gehalten werden muss, weil in der Gegend jeder jeden kennt, oder zumindest irgendwann zusammen zur Schule gegangen ist. Ein Vertreter mit Kundenstock im nahen Deutschland nützt die Geschäftsreisen des Ehemanns seiner Sexualtherapeutin, um verschämt und heimlich sexuelle Sitzungen abzuhalten. Die Lust an geheimem Sex wächst bekanntlich mit der Schwierigkeit, ihn geheim zu halten. Nach einer Sitzung bricht der Held zu seiner Geschäftsreise auf, es kommt ein heftiges Gewitter auf und im Regen glaubt er einen Schlag am Wagen zu vernehmen. Tatsächlich stellt er eine Eindellung fest, die er reparieren lässt. Inzwischen dreht seine Therapie-Geliebte durch, weil ihre Tochter im Regen tödlich angefahren worden ist. Fahrerflucht, sie ist verzweifelt. Jetzt bewährt sich die Kunst der Geheimniskrämerei, denn der Held kann seinen Unfall geheim halten.
„Diese paar Minuten“, seufzt die Frau, „wenn sie die Tochter abgewartet hätte, wäre sie noch am Leben“. Er freilich denkt sich Ähnliches. Wäre er ein paar Minuten früher aufgebrochen, wäre nichts geschehen. Obwohl alles seinen ländlichen Gang weitergeht, lastet ab jetzt eine schwere Gischt von Schuld und Verzweiflung über dem Landstrich.
Diese Titelgeschichte zeigt mustergültig ein paradoxes Erzählkonzept. Die Helden erzählen, indem sie etwas vertuschen müssen. Hinter allem, was öffentlich wahrgenommen wird, steckt vielleicht das genaue Gegenteil dieser Wahrnehmung.
Um Vertuschung geht es wohl auch bei der Geschichte um einen Camper, der mit einem Leih-Van zu einem Fußballspiel fährt. Auf der Heimfahrt nimmt er einen Jungen mit, und später eskaliert die Situation. Der Junge ist tot. Es ist ein Unfall, sagt der Held und legt ihn an einem Bach ab. Jetzt muss alles gereinigt und vertuscht werden, der Held erzählt sich selbst die Geschichte so lange, bis alles sauber und ein Unfall ist.
Bereits in der ersten Geschichte „Dann sage ich es ihm“ geht es um das Hinauszögern der Wahrheit in der Hoffnung, dass sie eines Tages schmerzfrei erzählt werden kann. Ein Vater begleitet seinen Sohn zum Fußballtraining, er hat von seiner Frau den Anruf bekommen, dass das ungeborene Kind tot ist. Der Sohn hat sich schon heftig auf das Geschwisterchen gefreut, aber Vater ist jetzt nicht imstande, dieses Unglück zu erzählen. Er lenkt sich ab mit anderen Geschichten, die man so lange erzählen muss, bis die wirklich wichtige überlagert ist. In dieser Außengeschichte geht es um drei Nachbarn, die als alleinstehende Männer jeweils das anliegende Schreibzimmer auf einem Bauernhof bewohnen. Alle tragen ein Unglück mit sich herum, welches der Erzähler vielleicht als Animation für seine Schreibarbeit verwenden könnte. Freilich schwebt über allem dieses unsäglich feine Diktum von Adalbert Stifter: „[…] steht eine sogenannte Unglückssäule. Es ist einmal ein Bäcker, welcher Brot in seinem Korbe über den Hals trug, an jener Stelle tot aufgefunden worden.“ (9)
Eine Feinheit in diesem Erzählkosmos des Rudolf Habringer besteht darin, dass manche Geschichten unerwartet auf einander Bezug nehmen. So kommt das Unfallmotiv mit Fahrerflucht am Schluss wieder zum Vorschein, wenn sich herausstellt, dass auch die befreundeten Frauen zur gleichen Zeit an ihren erotischen Nebenfronten gekämpft haben. Jetzt sind sie allesamt zur Verschwiegenheit gezwungen, niemand kann es sich leisten, die Wahrheit unbekümmert auszusprechen.
Dieses Vertuschen und Leugnen von Zusammenhängen treibt auch einen kleinen Bankangestellten halb in den Wahnsinn, als er nach Berlin geschickt wird, um eine größere Mitgeschichte zu erledigen. Er soll seine „Entmietungsstrategien“ (42) durchsetzen, wie er es gelernt hat. Als er den Geschäftstag ausklingen lassen will, überreicht man ihm eine Petition, in der verzweifelte Bewohner zur Sprache bringen, was er in Wirklichkeit tagsüber anrichtet hat. Beim abendlichen Anruf von Zuhause erfährt er, dass seine Tochter einen Ghostwriter gebucht hat, um die Abschlussarbeit doch noch hinzukriegen.
Überall bewegen sich die Helden auf dünnem Eis. Bestenfalls werden sie mit Floskeln abgespeist: „Das hat nichts mit dir zu tun.“ (36) Das Resümee verdichtet sich zum Titel der Schlussgeschichte:
Manchmal kommt alles zusammen. (183)
Rudolf Habringer erzählt wie Adalbert Stifter von seiner Unglückssäule. Je harmloser die Gegend, je entlegener der Waldfrieden, je verschlungener das Tälchen, das als Seitenast der Donau verschwindet, umso größer das Unglück, das unter der Haut der Bewohner schlummert.
Rudolf Habringer, Diese paar Minuten. Erzählungen
Salzburg: Otto Müller Verlag 2023, 190 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-7013-1311-2
Weiterführende Links:
Otto Müller Verlag: Rudolf Habringer, Diese paar Minuten
Wikipedia: Rudolf Habringer
Helmuth Schönauer, 22-10-2023