Christian Futscher, Der Erbsenjongleur
Erbsenzählen und die Prinzessin auf der Erbse – der Erbsenjongleur ist als Märchenerzähler bestens eingekleidet mit Stoff.
Christian Futscher tritt mit seinen gut vierzig Kleinodien als Märchenerzähler, Text-Wirt, Flaneur und pingelig dahin werkelnder Schriftsteller auf. Seine Miniaturen widmen sich allen erdenklichen Genres und werden dementsprechend kurz angebunden abgehandelt.
„Die letzte Seite eines Tagebuchs // Heute bin ich leider gestorben. Jetzt geht gar nichts mehr.“ (53)
Dazwischen liegen aufwühlend makabere Texte, die ansatzlos aus der Hüfte heraus in den Alltag gekickt sind. So werden harmlose Zeitangaben wie „am Morgen“, „am Vormittag“, „am Nachmittag“ zu unauffälligen Zeit-Szenarien für den kontemplativen Helden, der sich nicht aus dem Geschehen nehmen kann, das jäh über ihn hereinbricht.
„Am Morgen trete ich aus dem Haus und sage: Alles gut!“ (7)
Doch dann entwickeln sich die Gesichter der Passanten und Kinder, die ebenfalls das Tagwerk starten, zu Fratzen und stoßen Satzfragmente aus, die sie aus dem Medienkonsum des Vortags herübergerettet haben: „Fickt euch!“ Das kann ein befreiender Ruf sein, eine unverhohlene Drohung, oder die resignierende Zusammenfassung eines älteren Gemüts, das den neuen Tg nur mit größter Anstrengung anwerfen kann.
Da sich die pure Existenz als Held durch nichts abmildern lässt, – es gibt für diese Sanftheit gegenüber der eigenen Existenz keine Modellgeschichten oder literarische Erzählweisen, – probiert es der Erzähler mit dem puren Ich-Hammer: „Ich ich ich ich“ (64), gleich viermal schlägt er im Titel zu, ehe die etwas suggestiv formulierte Ermunterung folgt. „Ich habe einen Mund, eine Nase, zwei Ohren, drei Augen, einen Hals, zwei Arme, einen Bauch, einen Hintern, zwei Füße, und auch sonst ist alles an mir dran, was an einem Mann so dran ist. / Ich mag Gänseblümchen. Danke.“
Was auf den ersten Blick ein radikales Porträt eines Individuums darstellt, das zur Umgehung von Gesichtserkennung und dergleichen dient, ironisiert auf den zweiten Blick den Erzähl-Duktus, wie er hinter Selfies als Bildbeschreibung unterlegt ist. Vulgär beschrieben könnte man auch von einem Tik-Tok-Ich sprechen, das ein Icherzähler in die Literatur eingeschmuggelt hat.
Das ist überhaupt die große Leidenschaft, die den Geschichten des Erbsenjongleurs zugrunde liegt. Die einzelnen Belanglosigkeiten werden random aus dem Topf gepickt und einzeln degustiert. In der Sprache des Sommeliers würde man wohl von einem gelungenen Abgang reden, den die einzelnen literarischen Petitessen hinterlassen.
Die Beschäftigung mit sich selbst führt automatisch zu großer Sensibilität, die über Selbstmitleid bis zum Weltschmerz führen kann. Ab und zu wird diese Reflexion unterbrochen und als Mitleid mit den Literaturakteuren geteilt. „Armer Lektor, armer Leser!“
Wenn die Tageszeiten nicht mehr ausreichen, um darin eine Geschichte zu verankern, geht es auch mal historisch zu, indem der Erzählfinger auf die zufällige Jahreszahl 1480 und das zufällige Land Apulien zeigt. Nach der Futscherschen Logik ergeben zwei Zufälligkeiten eine plausible Wahrscheinlichkeit.
In einem Weihnachtswunder werden vier Söhne mit goldenen Musikinstrumenten beschenkt, damit sie eine güldene Weise spielen, beinahe im gleichen Atemzug kommen die Jahreszahl 1934 und Seewalchen ins Spiel, und spätestens seit dem Roman „Der Mann im Schilf“ (George Saiko) wissen wir, dass es hier um den österreichischen Bürgerkrieg geht. In der konkreten Geschichte freilich heißt es „keine Wurst für Zenzi“ (49). Kein Mensch nämlich kann darauf vertrauen, dass er etwas von der Wurst der Geschichte abbekommt.
Das ist ein weiteres Paradoxon, das Futscher in seinen Geschichten pflegt: Je grandioser etwas im öffentlichen Diskurs besprochen wird, desto erbärmlicher fällt der Plot für das Individuum aus, das am Ende der Nahrungskette der Geschichte steht.
Die letzte Episode ist auch die längste, was damit zu tun hat, dass sie am Abend und in der Nacht spielt. Und beide sind eben die größten Zeitabschnitte eines Umlaufs unter der Sonne, zum anderen ist die Geschichte so lang, weil sie kein Ende findet.
Schuld daran ist der Ich-Erzähler, der in einer Endlosschleife gefangen ist. Sobald etwas Laub im Innenhof liegt, erreicht ihn ein Flash aus Innsbruck, wo er einst unter Kasernenbedingungen durch einen undurchdringlichen Haufen von Laub schlurfen musste.
Genauso wie das Laub, das hinter seinen Schritten wieder in sich zusammenfällt, ist wohl auch sein Leben verlaufen, indem die Geschichten in sich zusammengefallen sind, nachdem sie sich ereignet haben.
Im Bild des Erbsenbreis bedeutet das, dass der Löffel beim Umrühren durch die Masse fährt, sich der Brei aber wieder vor aller Augen schließt, wenn der Löffel durch ist.
In der Abendgeschichte fallen schließlich die Erbsen zu einem Gekicher zusammen, von der Geschichte bleiben Satzfetzen und die Überlegung, das alles eines Tages bearbeiten zu müssen.
Der Erbsenjongleur wird zum Überlebensphilosophen und beschließt sein Wirken als Fragment:
„Einst sah ich einen Stier, der durch einen Friedhof stürmte. / Motte, Fliege, Erbse. / Es kann jederzeit aus sein.“ (175)
Christian Futscher, Der Erbsenjongleur
Wien: Czernin Verlag 2024, 177 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7076-0830-4
Weiterführende Links:
Czernin Verlag: Christian Futscher, Der Erbsenjongleur
Wikipedia: Christian Futscher
Helmuth Schönauer, 21-03-2024