Roger Van de Velde, Knisternde Schädel
In der Literatur werden Geschichten manchmal so heiß, dass man sie nur erzählen kann, wenn man gleichzeitig die Kühlelemente beschreibt, die zu ihrem Schutz installiert worden sind. „Knisternde Schädel“ sind zwanzig kleine Geschichten, die unter Überdruck in der Psychiatrie entstanden sind. Das Knistern im Kopfinnern diverser Helden deutet darauf hin, dass darin andere atmosphärische Drücke herrschen als in der sogenannten normalen Welt.
Der Journalist und Schriftsteller Roger Van de Velde wird zwangsweise und ungeplant zu einem Medium, das die Druckverhältnisse in den Schädeln von Psychiatrie-Insassen als Geschichten wiedergibt und über seine Frau in Zigarettenschachteln nach draußen schmuggeln lässt, wo angeblich die Realität vorherrscht.
Der Überplot der knisternden Partikel besteht aus einer imaginären Regieanweisung für Dichter, die der Autor wörtlich genommen und zur eigenen Biographie umgebaut hat.
Als Jugendlicher unter verqueren Familienverhältnissen aufgewachsen schreibt er Gedichte, die von einem Bekannten, der zufälligerweise Belgiens drittgrößter Dichterstar ist, wahrgenommen werden. Dieser Bekannte und Glücksfall ist Willem Elsschot, er ermuntert zum Schreiben, was in der Nachkriegszeit durchaus journalistisches Aufarbeiten jener Gefühle bedeutet, die im kollektiven Desaster aus Kollaboration, Unterdrückung und Gewalt unterminiert sind.
Wegen starker Schmerzen und dem Warten auf eine OP gerät Roger Van de Velde in den Einfluss von Schmerzmitteln, die letztlich zum Total-Kollaps führen. Da niemand in dieser chaotischen Welt weiß, was tun mit einem Opiat-Patienten, steckt man ihn in eine geschlossene Anstalt, wo strenges Regime und Zensur herrschen.
Unter dem Druck dieser Regularien beginnt der Autor sich in die Köpfe der Mitinsassen hineinzuversetzen, ohne deren wahre Empfindsamkeit erkunden zu können. Es bleibt beim Beobachten von grotesken Grimassen, entgleisten Gebärden und spontanen Plot-Eruptionen.
Immerhin ist der beobachtende Schreiber der einzige, der auf Seite der sogenannten Realität steht, weshalb er seine Geschichten nach draußen schmuggeln lässt in der Hoffnung, dass sie sich in der Realität der „Draußenwelt“ entfalten mögen.
Dem Autor nützen diese Geschichten nur insofern, als dass er postum gefeiert wird. Zu Lebzeiten war ihm ähnlich wie bei Heinrich von Kleist nicht mehr zu helfen, er starb 1970 an einer Überdosis jener Tabletten, von denen er statt vier regelmäßig sechzig eingenommen haben soll.
Die Geschichten sollten unter dem Deckmantel einer poetischen-skurrilen Aura gelesen werden, wie sie etwa seit Ken Keseys Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ bekannt ist.
Das heißt für die Lektüre, auf übliche Vereinbarungen über Geschmack und Tabu zu verzichten. Wenn etwa ein Kater mir nichts dir nichts an die Wand geschleudert wird und der geplatzte Kater-Körper Anlass für einen kurzen Disput zur Lage der Welt gibt. Der Grund für das Ausrasten eines „knisternden Schädels“ ist banal, der Kater hat dem Patienten eine Scheibe Fleisch vom Brot gefressen, auf das sich der Held schon Tagelang gefreut hat.
In der Erzählung vom „Gefrorenen Wasser“ (17) stellt ein Insasse wie bei einem Quiz Fragen an den Schreiber, weil er Auskunft von einer anderen Welt erhalten möchte. Einmal fragt er, ob der menschliche Körper wirklich in der Hauptsache aus Wasser bestehe. Und wenn ja, ob das auch bei Frauenkörpern so ist. Und wenn wieder ja, möchte er in diesem Wasser der Frauen schwimmen. Die Abschlussfrage lautet, ob es Gott gibt, und warum er an manchen Tagen das Körperwasser in den Ohren gefrieren lässt.
„Solche Dinge passieren im Irrenhaus.“ (21)
Der Autor lässt sich in der Anstalt von Kommilitonen rasieren, obwohl er manchmal Angst hat, dass die Rasur in Erregung übergeht. Während der Rasur heißt es also, vorsichtig mit den Sätzen umzugehen. Zum Beispiel wäre es nicht günstig, über das erotische Foto des Friseurs Witze zu machen, welches dieser für ein Unikat hält. Wie er überhaupt glaubt, dass in der Erotik alles einmalig ist, weshalb man nie von ihr aufgespürt wird.
In einem Nachwort von Annette Wunschel, das für den Bibliotheksdienst leider mit dem Trigger-Hinweis „Sonderzeichen-gegendert“ versehen werden muss, in diesem Nachwort also wird der Kosmos Van de Veldes sauber in drei Kurzessays abgehandelt. Die Kapitel „Not eines Lebens“, „Werk und Kontext“, „Knisternde Schädel“ erklären, warum das Interesse an diesem belgischen Dichter berechtigt ist und wohl noch wachsen wird.
Roger Van de Velde, Knisternde Schädel. Erzählungen. | Berührende und scharfsinnige Porträts von Insassen einer psychiatrischen Anstalt. A.d. belg. Niederl. von Annette Wunschel. [Orig.: De knetterende schedels, Brüssel, Den Haag 1969.]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2024 (= BS 1548), 143 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-22548-6
Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Roger Van de Velde, Knisternde Schädel
Wikipedia: Roger Van de Velde (engl.)
Helmuth Schönauer, 24-03-2024