Bernhard Hüttenegger, Wer seinen Sohn liebt
Das schriftstellerische Werk gilt Meistern erst dann als abgerundet, wenn darin jene Kindheit erzählt ist, die zum Schreiben geführt hat.
Bernhard Hüttenegger hat all seine Schreib-, Erinnerungs- und Bildkraft aufgeboten, um aus der Erfahrung einer geglückten Berufswahl zu erzählen, welche stummen Leiden und sprachlosen Gesten dafür notwendig gewesen sind. Der geschäftigen Welt entrückt sitzt im Schlussbild der Sohn an einem norwegischen Fjord, und lässt seine Gedanken an der Kante zwischen Witterung und Wasser oszillieren. In einer versöhnlich-pädagogischen Coda ist ein Sohn zum Sohn geworden.
Ehe dieser scheinbar so natürliche Ablauf des Lebens gelingt, wobei der Vater letztlich abtreten muss, damit der Sohn seine Persönlichkeit entfalten kann, macht der Protagonist die drei elementaren Stufen der Menschwerdung durch. Wie in einem Abzählreim werden die Bildungsmaßnahmen ausgezählt: Das Kind (7); Der Bub (30); Der Zögling (90). In den beiden Schlusskapiteln verlöscht der Vater (113) unter erbärmlichen Qualen an seiner Lunge, während der Sohn (136) Jahrzehnte später in Norwegen Luft findet.
Die Gliederungen sind in zarter Kapitalschrift in den Fließtext eingearbeitet, so als sollte man nicht erkennen, dass es Übergänge im Kontinuum des Heranwachsens gibt.
Die Erzählung spielt in einem magischen Raum, der um das Kind, den Zögling und den Heranwachsenden herum aufgebaut ist wie ein Aquarium, durch dessen Lichtbrechung die Dinge verzerrt erscheinen. In der Eingangsszene sitzt das Kind in der Fensterlaibung eines alten Hauses und blickt auf die Straße, Regen setzt ein, und allmählich füllt sich der Ausguck mit Licht und Wasser wie rund um einen Fisch. Seltsam geschützt und ausgesetzt lässt sich das Kind durch seine Kindheit treiben.
Seine Umgebung glänzt auf den ersten Blick wie in einem wohltemperierten Bilderbuch: Mutter macht Strudel, Vater kommt von der Arbeit heim und entledigt sich der Arbeitsutensilien, die in einem magischen Kastl versperrt werden. Großvater ist Schuhmacher und wird später die erste Lederhose zum Schulbeginn fertigen, Großmutter nimmt den Knaben mit zum Milch holen, der Dackel Schurl ist rundum unauffällig und zufrieden.
Selbst die Stadt zeigt sich an der Oberfläche als Idylle, sie hat tausend Jahre auf dem Buckel und ist eng um einen Kern geschlungen, aus dem es sich nur auf zwei Seiten hinausschlüpfen lässt.
Das Kind nimmt die Einzelheiten als Teile eines Bildes wahr, dessen Komposition es noch nicht kennt. Es beginnt mit seiner Schwester Kontakt aufzunehmen, die ebenfalls als Teil eines Familienbildes einzeln herumschwirrt. Als Weiterbildungsmaßnahme wechselt das Kind in den Status „Bub“ und beginnt einen Forschungsreisenden zu spielen, der mit Obstkisten über die Ozeane der kleinen Welt fährt. (31)
Hinter den Blitzen einer unerwarteten Wahrnehmung freilich bricht das mühsam aufgebaute Bild täglich zusammen. Vater trägt als Kriegsverletzung einen Granatsplitter im Kopf und hat ständig „Schädelweh“. Oft wird im die Familie zuviel und er entgleist, indem er mit Gewalt droht. Mehr als einmal gibt es Krawall an der Klotür, wenn nicht frei ist. Und auch in der Nacht gehen seltsame Dinge und Geräusche vor sich. Der Bub beobachtet, wie seine Eltern befremdend stöhnen und ringen, während sie animalische Laute von sich geben.
Um Näheres zu erfahren, inspiziert der Bub seine Schwester im Schlaf und nennt es später Erkundung der Grotte.
Wenn das Kind vom Vater lernen will, stößt es auf lauter unerklärbare Dinge. Vater geht manchmal mit der Pistole außer Haus, um für die Sparkasse Geld aus der nächsten Stadt zu holen. Einmal in der Woche ist Kriegsopfersitzung, nach der er besonders aufgekratzt nach Hause kommt. Der Bub darf manchmal beim Kino dabei sein, der wichtigste Film ist „der längste Tag.“
Nach der Schule gibt es abermals Erkundungen, dieses mal nicht allein in der Obstkiste, sondern mit den Mitschülern draußen am Gewässer, wo vor allem Frösche gefangen und zerlegt werden. An ihnen lässt sich all das erforschen, was man bei Menschen nicht sieht, die Nerven etwa, oder wie sie zucken, wenn es die richtigen Reize gibt.
Die Phase des Zöglings bringt den Helden hinaus aus der Stadt, im Internat wird er einchecken und vielleicht Lehrer werden. Vater verabschiedet ihn feierlich am Hauptplatz, wo er aus der Sparkasse herauskommt, um ein wenig stolz zu sein auf seinen Sohn, der sich mit Frischwäsche zum Bahnhof aufmacht.
Das Internat lässt vor allem die Entfernung zu daheim spüren. Erwachsenwerden heißt, immer weniger davon mitzubekommen, was sich zu Hause abspielt.
Vater will auf seinen Sechziger lossteuern und eine versöhnende Pension erreichen. Aber ihm geht die Luft aus, er beginnt zu leiden wie ein Hund. Durchhalten bis zur Pension, heißt die Parole, aber die Sparkasse lässt ihn nicht ziehen, dazu sei er schon zu schwach.
Das letzte Mal, dass der Zögling seinen Vater aufrecht sieht, ist in einer Szene, da hat er einen Schladminger Hut auf. Der Rest ist Sterben, Tod, Begräbnis.
Die Sterbeszenen sind ähnlich straff und schmucklos in Einzelteile zerlegt, wie es das Kind einst gelernt hat, als es aus der Fensterlaibung auf die Straße geblickt hat.
Das letzte Kapitel ist kurz wie eine Idee. Aus dem Lehramtszögling ist ein Schriftsteller geworden. Jetzt, wo vom Vater alles erzählt ist, hat er seine Aufgabe erledigt, an der er ein Leben lang gearbeitet hat. Er ist Sohn geworden. – Herzergreifend klar und bitter wahr!
Aus dem verdunkelten Ambiente der 1950er Jahre ist durch Bernhard Hüttenegger dann doch noch ein helles Bilderbuch geworden, das Auskunft gibt über die letzten Dinge dieser Welt.
Bernhard Hüttenegger, Wer seinen Sohn liebt. Erzählung, [EA: Kitab, Klagenfurt 2003]
Graz: edition keiper 2024, 138 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-903575-12-7
Weiterführende Links:
Edition Keiper: Bernhard Hüttenegger, Wer seinen Sohn liebt
Wikipedia: Bernhard Hüttenegger
Helmuth Schönauer, 19-05-2024