Edgar Hilsenrath, Das Märchen vom letzten Gedanken

Buch-CoverEdgar Hilsenrath ist in der Literatur ein beinahe schon unheimliches Unikat. Je schärfer das Schicksal zuschlägt, umso witziger wird er, könnte man plakativ sagen. Seine Texte haben im schmerzlichen Fundament die Schrecknisse des Holocaust eingegossen, aber darüber versuchen sie rettend skurril schräge Geschichten zu erzählen.

Jetzt ist das Gesamtwerk in einer gepflegten Ausgabe erschienen, das Hauptwerk ist darin "Das Märchen vom letzten Gedanken". Hier liegt die Überlegung zugrunde, dass es am Ende des Lebens einen Gedanken gibt, der zeitlos alles erklärt und gültig macht. Im Märchen vom letzten Gedanken sucht dieser Gedanke die Geschehnisse um den Völkermord an den Armeniern 1915 auf. Vielleicht kann man über den Holocaust sprechen, wenn man ganz woanders hinfliegt, lautet die Überlegung.

Die Figur des Märchenerzählers führt sich ungeniert geradlinig ein, der Märchenerzähler darf kraft seines Amtes alles, er löst die Realität in Fiktion auf, die Zeit sowieso und auch das Personenset ist ihm phantasievoll ausgeliefert.
Die Geschichte baut sich rund um den Märchenerzähler als Universaldialog auf. Jemand wird mit Kaiserschnitt geboren, gab es damals schon Kaiserschnitt, nein, die Frauen kacken damals ihre Kinder einfach in den Sand, was machen die Deutschen, sind sie schon in Paris?

Im Zweifelsfalle hat jemand mitten in den Kriegswirren eine Psychoanalyse bei der Hand, so verrückt kann eine Situation gar nicht sein, dass man nicht versuchen könnte, ihr ein Untertassl der Normalität unterzusetzen.

Über hunderte von Seiten fließt die Geschichte in Dialogen ab und verfestigt sich zwischendurch zu Gesprächsklumpen, wie sie oft bei Märkten herumstehen, in historischen Diskursen oder einfach zwischen dem Blick in eine Tageszeitung und dem Aufblick ins Universum.

Der Märchenerzähler Meddah erzählt natürlich für uns Leser, aber im Buch vor allem für Thovma Khatisian. Dieser sucht seinen Vater und findet ihn beinahe beiläufig aufgehängt im Gefängnis von Bakir.
Das macht Edgar Hilsenrath so wahnwitzig einmalig, man liest die größten Verbrechen und lacht dabei ohne vorgehaltene Hand!

Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. Werke Band 6.
Köln: Dittrich 2005. 512 Seiten. EUR 24,80. ISBN 3-937717-04-8

 

Helmuth Schönauer, 30-05-2005

Bibliographie

AutorIn

Edgar Hilsenrath

Buchtitel

Das Märchen vom letzten Gedanken

Erscheinungsort

Köln

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Dittrich

Seitenzahl

512

Preis in EUR

EUR 24,80

ISBN

3-937717-04-8

Kurzbiographie AutorIn

Edgar Hilsenrath, geb. 1926 in Leipzig, 1938 Flucht nach Rumänien, 1941 jüdisches Getto in der Ukraine, 1945 Palästina, 1951 USA, lebt in Berlin.