Guy Helminger, Etwas fehlt immer

Buch-Cover

In der Managementsprache nennt man es suboptimal, wenn etwas nicht ganz perfekt oder überhaupt ein Schas ist. Und dieser kleine suboptimale Mangel zieht sich oft durch den Alltag der so genannten kleinen Leute, mal etwas hypochondrisch angelegt, mal als miese Laune.

Guy Helmingers Geschichten geben auf die Frage, was fehlt dir denn, die perfekte Antwort: - Alles!

Die Geschichten sind natürlich perfekt, aber den Personen oder dem Ambiente fehlt jeweils etwas, zumal man als Zuseher ja die Mangelbrille aufgesetzt hat und wie bei den berühmten Suchbildern intensiv auf kleine Mängel und Abweichungen starrt.

In der Eröffnungsgeschichte „Beobachtungen“ ist das Erzählkonzept des Mangels grandios vorgestellt. Ein gewisser Felder schreibt alles in Hefte, er schreibt quasi auf Vorrat, damit er immer die passenden Passagen griffbereit hat, wenn etwas passiert, was diesem formatierten Erlebnisvorrat entsprechen könnte.

Die Passanten werden nach ihren Kleidungsstücken diversen Beobachtungssequenzen zugeordnet, ein gewöhnlicher Ausgang in den Park artet in Beschreibungsorgien aus. Dabei sind die einzelnen Sequenzen scheinbar willkürlich zusammengesetzt, der gesamte Handlungsverlauf braut sich aus einzelnen Erlebnispixeln zusammen.

Aber es kommt ganz anders, als es der Beobachter erwartet. Er wird beim Versuch, eine Frau zu schützen, offensichtlich sinnlos zusammengeschlagen. Plötzlich gibt es keine passenden Sätze mehr für das, wovon sich das Hirn gerade verabschiedet. Das Verlöschen der Beobachtung und das allmähliche schwarze Loch sind offensichtlich wirklich etwas Neues, es fehlt jegliche Logik. Zumal die Frau noch ruft: Lauf weg.

In der Erzählung „Pelargonien“ fehlen diese an der entscheidenden Stelle am Balkon. Bald stellt sich nämlich heraus, dass das Gewächs, das für Pelargonien gehalten werden soll, gar kein solches ist, womit das gesamte Balkonarrangement ungültig wird.

In der dritten Erzählung bricht plötzlich unter dem unauffälligen Titel „Theater“ einer Schauspielerin der Wirklichkeitssinn zusammen, sie kann nicht mehr genau unterscheiden, was Sätze fürs Publikum sind und was sie selbst denkt. Außerdem rückt ihr ein Stalker ziemlich auf die Pelle, ganz egal, was sie spielt oder liest, sie fühlt sich verfolgt.

Guy Helminger erzählt raffiniert, die Oberfläche der neunzehn Erzählungen ist sauber aufgeräumt und ästhetisch wohl bestellt, unter den polierten Schilderungen freilich sind die Bruchlinien nur notdürftig getarnt. Jede Erzählung kann an jeder Stelle zerbrechen und Handlung, Harmonie und Helden mit sich in die Tiefe reißen.

„Etwas fehlt immer“ mahnt den Leser zur Vorsicht, auch beim Lesen. Aber wie in guten Erzählungen üblich, schafft man es vielleicht, der ersten Falle aus dem Weg zu gehen, um dann vollends in die nächste zu fallen. Und trotzdem sind es gerade diese verhöhnenden Erzählkicks, die so gut tun.

Guy Helminger, Etwas fehlt immer. Erzählungen.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2005, 268 Seiten, EUR 19,80. ISBN 978-3-518-41708-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Guy Helminger, Etwas fehlt immer
Wikipedia: Guy Helminger

 

Helmuth Schönauer, 23-02-2006

Bibliographie

AutorIn

Guy Helminger

Buchtitel

Etwas fehlt immer

Erscheinungsort

Frankfurt a. M.

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

268

Preis in EUR

EUR 19,80

ISBN

978-3-518-41708-9

Kurzbiographie AutorIn

Guy Helminger, geb. 1963 in Esch-sur-Alzette/Luxemburg, lebt seit 1985 in Köln.