Javier Salinas, E

Buch-Cover

Was vorerst wie ein aus einem größeren Schriftzug gefallener Buchstabe vom Cover herunterglotzt, ist dieses E, eine Hauptperson, die sich zu einem einzigen Zeichen verschrumpelt hat.

Javier Salinas geht in seinem spritzigen Roman vom großen E der Frage nach, wie eine Identität entsteht, wann eine Person als solche ihre Grenzen erreicht und wie Weltstoff auf ein einziges Hirn herunter gebrochen werden kann.

Während es etwa beim „Gantenbein“ von Max Frisch noch darum geht, eine kompakte Kopfbiographie zu erstellen, sich bei Hans Joachim Schädlichs „Tallhover“ das Porträt eines Staatspolizisten quer über die Jahrhunderte legt, und Konrad Bayer seinen „Kopf des Vitus Bering“ aus Ausrissen von Expeditionsbüchern erstellt, pflanzt Javier Salinas seinem Helden „E“ gleich die ganze Weltkugel von Zeit im Bild ein und lässt ihn alle Schauplätze in Erlebnisekstase aufsuchen.

Der Roman beginnt mit einer Desavouierung des Lesers, das Buch könnte ein Mist sein, der Autor ein Fake und der Leser soll gleich aufpassen, was er da liest, weil nichts glaubwürdig ist. E sitzt offensichtlich in einer geschlossenen Anstalt und holt die Welt zu sich herein, indem er an der Stelle von in die Welt hinausgeht.

Da ist er einmal ein berühmter Musiker, der Russland mit seinen Kompositionen unterwandern möchte, dann geistert er sehr glaubwürdig als unschuldiger österreichischer Soldat durch die jüngere Zeitgeschichte, ehe er sich als Bsuff in Budapest niederlässt. Irgendwann geht es auch nach Schweden, wo in Krimi-Atmosphäre die Hintereingänge der Gesellschaft aufgesucht werden.

Und zwischendrin gibt es immer wieder Störungssequenzen, wo Sätze in den Kopf schleichen, abreißen, sich als Dialog ausgeben und in einem Atemzug Weltgeschichte und hohle Gasse benennen. Der Vater war vielleicht Schifahrer mit erotischem Rennanzug oder ein angesehener Kinderarzt, nicht minder angesehen.

Manchmal entgleitet mir alles. Könnte ich nicht auch ein anderer sein, als ich bin, Österreicher oder Finne oder Ungar oder Albaner, einen Namen haben, verheiratet sein, einen Beruf haben oder gar vor den Pforten des Todes stehen. Nicht in dieser Anstalt eingesperrt sein. (69)

Die Sätze für markante Persönlichkeiten ergeben aneinandergereiht einen amorphen Europäer, der alle Länder und Zeiten in sich vereint und dadurch eine Non-Person wird. Mit diesem Wortschatz aus heroischen Biographien wird E selbst zu einer Biographie, die schriftliche Realisation der Persönlichkeit ist der ideale Zustand. Nicht umsonst heißt der Roman im spanischen Original das Buch von E.

Als Leser unterhält man sich mit diesem Roman wie bei einer kompakten Wochenschau über Jahrhunderte. Die hehren Ziele einer guten Lebensführung entlarven sich von selbst. Und auf die Kindchen-Frage „was willst du einmal werden?“ antwortet der aufgeklärte Lese-Maxi nach dieser Lektüre wie aus der Pistole geschossen: Ein Buch!

Javier Salinas: E. Roman. A. d. Span. von Lisa Grüneisen. [Orig.: „El libro de E“, Madrid 2003.]
Zürich: Ammann 2006. 276 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-250-60097-8

 

Weiterführende Links:
Amman-Verlag: Javier Salinas, E
Wikipedia: Javier Salinas

 

Helmuth Schönauer, 09-05-2006

Bibliographie

AutorIn

Javier Salinas

Buchtitel

E

Originaltitel

El libro de E

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Ammann

Übersetzung

Lisa Grüneisen

Seitenzahl

276

Preis in EUR

EUR 19,90

ISBN

978-3-250-60097-8

Kurzbiographie AutorIn

Javier Salinas, geb. 1972, lebt in Madrid und Köln.