Agota Kristof, Die Analphabetin

Buch-Cover

„Ich lese. Das ist wie eine Krankheit. Ich lese alles, was mir in die Hände, vor die Augen kommt: Zeitungen, Schulbücher, Plakate, auf der Straße gefundene Zettel, Kochrezepte, Kinderbücher. Alles, was gedruckt ist. Ich bin vier Jahre alt. Der Krieg hat gerade angefangen.“ (7)

Manche Bücher fahren gleich mit dem ersten Absatz ins Herz der Leser, da wird nicht lange gefackelt. Agota Kristofs Hommage an ein durchgelesenes Leben fängt mit so einer Kampfansage an die Dummheit und Trägheit an, Lesen ist wie eine Krankheit, die zur heftigen Gesundheit führt!

Auf der Spurweite der Lesekunst rollt künftig das Leben der Ich-Erzählerin ab. Zuerst die Idylle in einem ungarischen Dorf, der Vater Lehrer, die Kindheit unversehrt, schön und ganz. Dann kommt der Krieg nach Ungarn und zerstört alles, Gesellschaft, Individuen, jegliche Art von Zukunft. 1956 muss die Erzählerin flüchten und landet zufällig in der französischen Schweiz. Jetzt mit knapp zwanzig Jahren ist sie über Nacht zu einer Analphabetin geworden.

Am Rande des Wirtschaftsaufschwungs bringt sie sich und die Familie durch, schreibt zäh und verbissen, die neue Sprache wird bis zu den Knochen abgenagt und dennoch bleibt es immer eine andere, fremde angelernte Sprache.

Die kleine autobiographische Erzählung schwingt sich von Kapitel zu Kapitel über diese tiefe sprachlosen Kluft unter den Beinen, aber dennoch geben die Sprachen, worin die Erzählerin hängt, unverdrossen Halt. In losen Erinnerungsschleifen geht es um den Quantensprung, der zwischen Reden und Schreiben liegt, Gedichte tauchen im Gedächtnis auf und verfestigen ganze Jahre mit einer einzigen Zeile. Die aktuelle Geschichte, wie etwa Stalins Tod 1953, dringt als Schlacke allmählich bis zu den peripheren Zeitgenossen vor. Und immer wird alles zusammen gehalten von der Kunst des Lesens und Schreibens.

Wie wird man Schriftsteller? heißt schließlich das Kapitel, das wie eine Verheißung aus dem Promised Land klingt. Beim Eintritt in die Schweiz ist die Hoffnung auf Schreiben gleich null gewesen. Aber dann gibt es glückliche Umstände und aus der geflüchteten Ungarin wird eine weltbekannte Schriftstellerin. So ist das in der Literatur, wenn die Zeit gekommen ist, bricht sie durch und schießt ins Freie.

Am Beispiel des Hauptwerkes „Das große Heft“ wird zwischendurch erzählt, wie der Glaube an die fiktionale Kraft aus purer Erinnerung eine Lebensgeschichte machen kann.

Agota Kristofs kleine Erzählung ist schlicht, streng und ungebändigt wie ein Gebetsbüchlein aus der Romantik. Ja, das Lesen macht Sinn, das Erinnern, die Bescheidenheit und vor allem das Schreiben!

Agota Kristof, Die Analphabetin. Autobiographische Erzählung. A. d. Französ. von Andrea Spingler.
Zürich: Ammann Verlag 2005. 75 Seiten. EUR 12,90. ISBN 978-3-250-60083-1

 

Weiterführende Links:
Amman-Verlag: Agota Kristof, Die Analphabetin
Wikipedia: Agota Kristof

Bibliographie

AutorIn

Agota Kristof

Buchtitel

Die Analphabetin. Autobiographische Erzählung

Originaltitel

L’analphabète. Récit autobiographique

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Ammann Verlag

Übersetzung

Andrea Spingler

Seitenzahl

75

Preis in EUR

EUR 12,90

ISBN

978-3-250-60083-1

Kurzbiographie AutorIn

Agota Kristof, geb. 1935 in Csikvand/Ungarn, lebt seit 1956 in Neuchatel/Schweiz.