E. Y. Meyer, Eine entfernte Ähnlichkeit

Buch-Cover

Oft ist es eine einzige Gesichtsikone, die die Erinnerung an wunderbare Literatur auslöst. Wer kennt nicht das hohle Tuberkulosegesicht Franz Kafkas, das einen sofort in den Augen das undurchdringliche Schloss suchen lässt? Und wer sucht nicht im aufgequollenen Gesicht Adalbert Stifters nach dem Schnitt der Rasierklinge, mit dem der ewige Nachsommer beendet worden ist?

Der Berner Autor E. Y. Meyer nimmt die Erinnerung an das „literarisch heftige Gesicht“ zum Anlass, um in einer kunstvoll komponierten Erinnerungsgeschichte des fünfzigsten Todestages Robert Walsers zu gedenken.

Robert Walser ist der kauzigste unter den ohnehin sehr pingelig-lieblichen und dabei halb verschlossenen Schweizer Autoren. Den Gutteil seines Lebens verbrachte Walser in einer Heil- und Pflegeanstalt, berühmt gemacht hat ihn sein fuzziger Bleistiftstil, mit dem er die Welt in minimalen Beobachtungsskizzen in einem Zug verdichtet und auf das Wesentliche ausgedünnt hat.

In der Würdigungs-Erzählung „Eine entfernte Ähnlichkeit“ trifft der Erzähler auf eine Figur, die diesen sofort an ein Robert-Walser-Foto erinnert. Der schräge Typ aus dem Landgasthaus schwärmt von seinem Nierenleiden und hat seinen Lebenssinn auf das Abschmecken von algerischem Landwein reduziert. Alles was kein Algerier ist, ist eine Verstörung.

Der Erzähler geht dieser entfernt ähnlichen Walser-Figur nach, der Kauz heißt Loser und wohnt ebenfalls in einer Anstalt. Nach einem ausführlichen Spaziergang mit Loser hat der Erzähler genug an Ähnlichkeit gefunden, um die eigene Erinnerung an Robert Walser ausleben zu können. Eigentlich will er den Loser gar nicht mehr treffen, weil ab jetzt jede Begegnung die Erinnerung stören würde.

Elegant und literarisch einwandfrei stirbt Loser an einem Weihnachtstag und wird von zwei Knaben gefunden. Die Ähnlichkeit mit Robert Walser ist perfekt.

In diese Erzählung ist subtil die Lebensgeschichte Robert Walsers eingearbeitet, ironisch wird das Erinnerungsdouble mit dem Erinnerungsvorbild in Beziehung gesetzt. Der Leser muss sich den Kult, den Dichter oft auslesen, bei jeder Lektüre neu erarbeiten. Zwischen Literatur, Sehnsucht nach der Ikone und der Erfüllung durch die Geschichte passt mit der Zeit nicht einmal mehr das sprichwörtliche Blatt Papier.

In zwei Essays erinnert E. Y. Meyer schlicht und subtil verzopft an die eigene Walser-Lektüre und stellt den Typ des Versagers als den wahren literarischen Helden dar. Eine umfangreiche Chronologie zum Leben und Schreiben Robert Walsers, sowie ein Abriss der Sammlungen und Editionen beenden diesen Gedächtnisband, der vor allem eines schafft: Er weckt unheimliche Gelüste, Robert Walser zu lesen!

E. Y. Meyer, Eine entfernte Ähnlichkeit. Eine Robert-Walser-Erzählung und zwei Essays über Robert Walser.
Bozen, Wien: folio 2006, 122 Seiten, EUR 19,50, ISBN 978-3-85256-341-1

 

Weiterführende Links:
Folio-Verlag: E.Y. Meyer, Eine entfernte Ähnlichkeit
Wikipedia: E.Y. Meyer

 

Helmuth Schönauer, 10-05-2006

Bibliographie

AutorIn

E. Y. Meyer

Buchtitel

Eine entfernte Ähnlichkeit

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

folio

Seitenzahl

122

Preis in EUR

EUR 19,50

ISBN

978-3-85256-341-1

Kurzbiographie AutorIn

E. Y. Meyer, geb. 1946 in Liestal/Schweiz, lebt in Bern.<br />Robert Walser, geb. 1878 in Biel, starb am 25. Dez. 1956 auf einem Spaziergang im Schnee.