Thomas Meinecke, Feldforschung
Die höchste Erotik tritt dann auf, wenn Alltagsmenschen plötzlich den Gestus von Filmfiguren überstreifen und in Wort und Bewegung zu Heldinnen und Helden der Leinwand mutieren.
Andererseits sind die Bewegungen der Leinwandfiguren so ausgerichtet, dass sie wie in der Sixtinischen Kapelle zwischen dem Göttlichen und der tatsächlichen Welt jenen kleinen Spalt an den Fingerspitzen offen lassen, der Schöpfer und Geschöpfe unterscheidet.
Thomas Meinecke nennt seine Erzählung trocken Feldforschung und setzt sich dabei auf die Fährte jener edlen Kultur, die uns als posierende Erotik nach und nach unter die Haut fährt.
In seinen elf Fallbeispielen aus der Welt von Film, Fiktion und Fick geht es um den großen Gestus von Handlungen, wie sie beispielsweise im Abspann vor dem Publikum ausrollen. So werden etwa in der Sequenz „Odyssey“ jene Punkte mit sekundengenauer Zeitangabe angeführt, die irgendwann zwischen Freitag und Sonntag der Schriftsteller John Rechy (City of Night) aufgesucht hat. Appartement, Santa Monica Beach, Suton Street oder Griffith Park werden als pure Location angeführt.
Aber die Wege dorthin entstehen im Leser wie der Weg zwischen den Schnitten eines Films, der Leser quetscht automatisch zwischen den Zeitabläufen und Orten die Geschichte seiner Vorstellung. Selbstverständlich entsteht hier ein weites Feld von Erotik, denn nichts ist geheimnisvoller, als wenn man zwischen zwei Ortsangaben sonst nichts weiß. Gerüchtehalber war der erste Aids-Tote ein Flugbereiter, ihn hat man als Patient Zero zu einem filmischen Ereignis hochgefahren, ehe dann Hollywood-Helden Aids in die Hand und in die Körper nahmen.
Das filmische Edelpaar Richard Gere und Cindy Crawford schaltet plötzlich Anzeigen und erklärt in einer Info-Campagne seine sexuellen Spezialgelüste. Ein paar mal sind die Erzählungen auf Englisch abgefasst und entwickeln so den Drall von langen Pop-Songs.
Erotik in der Filmbranche ist stets gespeist von Windmaschinen der Illusion. Oft liegt die wahre Rolle der Protagonisten in ihrem Freizeitritual, während die echte Filmrolle nur zur Tarnung angelegt ist.
Wir vom Publikum stehen aufgeregt vor diesen Erzählungen, die jene Felder erforschen, von denen wir schon immer angenommen haben, dass da etwas Seltsames darauf wächst. Gerüchte, Tratsch, die Regenbogenpresse und die TV-Programmhefte zeigen letztlich unserer Sehnsucht, wo die wirkliche Erotik abgeht. Thomas Meinecke hat in diese Halbwelt die passenden Erzählfiguren hineingestellt.
Die Erzählungen dienten 2006 während der Ausstellung „Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960“ im Museum Ludwig in Köln als so genannte narrative Begleitung.
Thomas Meinecke, Feldforschung. Erzählungen.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2006. (= es 2474).143 Seiten. EUR 8,50. ISBN 978-3-518-12474-1
Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Thomas Meinecke, Feldforschung
Wikipedia: Thomas Meinecke
Helmuth Schönauer, 03-12-2006