martin maier, oder soWahrscheinlich die diskreteste Relativierungsformel der deutschen Sprache heißt „oder so“. Wird dieses magische Zeichen für Mehrdeutigkeit einer Behauptung hintangestellt, so schwächt sie einerseits das Behauptete ab, indem etwas gar nicht so klar sein möchte, andererseits bekommen die verwendeten Begriffe Konkurrenz, es kann etwas „gefährlich sein oder so“, der verwendete Begriff könnte durchaus ersetzt werden.

Martin Maier überschreibt seine knapp fünfzig Texte mit diesem „oder so“ und lässt dabei das Genre offen. Manchmal glaubt man eine Parabel zu erkennen, wie sie in der Literaturgeschichte Franz Kafka mit seinem „Gibs auf“ vorgelegt hat, ältere Leser werden an Bert Brecht und seine „Keunergeschichten“ erinnert sein, wenn sich nach einer rätselhaften Problemstellung eine Art didaktischer Ausweg anbietet. Manches ist einfach eingedampfte Performance eines verschwundenen Alltags, und Anhänger des Bildes von der Doppelhelix in biologischen Zellen schwärmen von der Verschränkung, mit der Konnotation und Denotation sich in den Armen liegen.

tom zürcher, liebe rockDer gute Dichter textet alles, was das Leben von ihm verlangt. Tom Zürcher hat diese literarische Hauptaussage vorsorglich in die eigene Biographie verlagert. Dort ist sie auch dann noch von Nutzen, wenn sich ein Buch mit all seinen Weisheiten nicht am Literaturmarkt bewähren sollte. Und diese literarische Programmatik bringt zudem den gegenwärtigen Literaturbetrieb auf den Punkt.

Im Sinne der Postmoderne muss der Leser mitmachen und die finale Ordnung der Lektüre besorgen, der Autor bringt das Knowhow aus der Szene der Literaturhäuser und Schreibwerkstätten mit, und die überschaubar wenigen Figuren sind aus den Verlagskatalogen abgeschrieben, wo sie die Felder Kindheit, Erziehung, Liebe, Hund, Behinderung abdecken. Und es gibt keinen Unterschied zwischen der schreibenden Figur, dem Leser und dem abgedruckten Portfolio an Handlungen und Gesprächen.

elke steiner, die frau im atelierKünstler müssen nicht unbedingt ein Werk abliefern, um zumindest für die Steuer als solche gewürdigt zu werden. Ohne ihr Zutun entwickeln sie sich manchmal zu Inszenierungs-, Konzept- oder Hungerkünstlern.

Elke Steiner zeigt in ihrem Künstler-Roman „Die Frau im Atelier“ einen etwas von der Welt abgekapselten Maler, der zudem alles auf die lange Bank schiebt. Als Fachausdruck bietet sich der Ausdruck Verdrängungskünstler an, oder, wie im Roman direkt angesprochen, Prokrastinations-Maler.

kathlee stock, material girls„In diesem Buch geht es um Geschlecht und diese mysteriöse Sache, die als Gender bekannt ist. Es handelt davon, wie im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts – recht überraschend – eine philosophische Theorie über etwas namens gender identity, »Geschlechtsidentität«, das öffentliche Bewusstsein ergriff, die britischen und internationalen Institutionen erheblich beeinflusste sowie Proteste und sogar Gewalt hervorrief.“ (S. 7)

Kathleen Stock, die als Professorin an der englischen Universität Sussex unterrichtet hat und selbst Opfer transaktivistischer Anfeindungen geworden ist, analysiert die unterschiedlichen Theorien, in denen das Geschlecht eines Menschen als eine Frage der Geschlechtsidentität verstanden wird. Dabei geht sie systematisch der Geschichte und Widersprüche dieser Theorien nach und zeigt die negativen Auswirkungen vor allem für Frauen auf.

helga pregesbauer, coronaBei der Stofflektüre aus dem Ersten Weltkrieg ist es nach hundert Jahren egal, ob jemand in den ersten Wochen gestorben ist, wie Georg Trakl 1914 in Grodek, oder im zweiten Jahr der Katastrophe, wie August Stramm 1915 am Dnjepr-Bug-Kanal.

Corona wird vielleicht in hundert Jahren ähnlich abgekühlt betrachtet werden, noch ist offen, welche Schriftsteller dann literarisch noch am Leben sein werden.

alexander kluge, zirkus - kommentarEin Künstler wird, solange er aktiv in der Kunst tätig ist, seine Biographie mit jedem Kunstwerk nachjustieren, wenn nicht gar neu schreiben, weil ja so viel Stoff da ist.

Alexander Kluge ist in mehreren Sparten unterwegs, seine Kunst ist es vielleicht, dass er zwischen den Sparten eine eigene poly-artistische Arena aufgemacht hat. Bei einem Kluge-Statement handelt es sich meist um ein Konglomerat aus Film, Bild, Text und Biographie. Seine Fans sind jedes Jahr überrascht, wie er Kunstwerk und Leben in permanenter Reprise neu gestaltet. Heuer hat er als dramaturgisches Leitmotiv den Zirkus gewählt, der ihn schon seit Kindertagen begleitet. Was um diesen Schlüsselbergriff herum geschieht, wird trocken Kommentar genannt.

ralf-peter fuchs, die französische revolution„Zunächst wird in diesem einleitenden Beitrag die Frage nach dem historischen Ort der Französischen Revolution diskutiert werden. Wann und wo hat sie stattgefunden und welche Ereignisse gehören zur Revolution? Wie ist ihr Verhältnis zur Gegenwart und ist sie ein weltgeschichtliches oder ein europäisches Ereignis?“ (S. 10)

Das Sachbuch „Die Französische Revolution“ richtet sich speziell an Studenten und Lehrer und bietet Hilfen für die Planung des Geschichtsunterrichts. Dazu gehören neben einem aktuellen Sachwissen über den aktuellen historischen Erkenntnisstand und Überlegungen zur Relevanz des Themas in der Gegenwart auch Hilfen für die geschichtsdidaktische Vermittlung und Stundenvorbereitung.

friedrich hahn, peter und peterKann ich mir selbst das glauben, was ich mir selbst erzähle? Muss ich mich an das vorgegebene Schicksal halten, oder darf ich selbst in meine Identität eingreifen und dadurch die Geschichte verändern?

Friedrich Hahn kümmert sich Roman für Roman um Identität und Lebenssinn der „kleinen Leute“, die im Laufe des Lebens aus der eigenen Geschichte herausrutschen. Sie haben letztlich nichts als sich selbst, und müssen sich als Figuren durch die vielen Sinn-Attacken ducken, die über sie herfallen. Dabei gehen zumindest die Romane bei Friedrich Hahn immer gut aus, vermitteln sie doch zwei Botschaften: Jeder ist zu einem Leben im Standby-Modus fähig, und jede Vita lässt sich aussitzen bis hin zum wohlverdienten Tod.

michel jean, kukumWenn man die großen Erzählungen von Mutter Erde auf sich einwirken lässt, so sind die Geschichten oft wie das eigene Leben aufgebaut. Viele von uns haben eine unversehrte Kindheit, eine jähe Aufbruchsstimmung und das Desaster von Habgier und Wachstum erlebt, ehe wir jetzt alt und kaputt auf die Erde schauen und seufzen, dass wir deren Untergang gerade nicht mehr erleben werden.

Die meisten unserer Jahrgänge haben das Lesen gelernt mit scheinbar unversehrten Geschichten von Robinson Crusoe oder Lederstrumpf. Wir Leser mussten alt werden, um nachzulesen, wie die Geschichte von der Eroberung und Verwüstung der Natur wirklich erzählt werden muss.

saul friedländer, ein verbrechen ohne namen„Das postkoloniale Denken versucht zu beweisen, dass die Vernichtung des europäischen Judentums ein Genozid wie jeder andere war, nämlich ein Töten aus konkreten praktischen Überlegungen. Daher versuchen die postkolonialen Theoretiker möglichst oft die Worte »Kolonialismus« oder »Imperialismus« zu verwenden, wenn sie das Schicksal der Juden Europas beschreiben …“ (S. 23)

Während beim Historikerstreit der Jahre 1986/87 in der deutschen Geschichtswissenschaft der Verwurf der Relativierung des Holocaust durch konservative Historiker im Mittelpunkt der Diskussion gestanden hat, trifft der Vorwurf der Relativierung der NS-Verbrechen in der jüngsten Debatte vor allem linke Theoretiker, die den Holocaust im Kontext des Kolonialismus und kolonialer Gewalt betrachtet wissen wollen.