So etwas gibt es nur in der Literatur: Einen glatten Titel, flach wie ein Parkplatz, und gleich aufregende Lebenspraktika wie das Abschneiden von Warzen mit dem Taschenmesser und dem Geruch von am Dachboden Erhängten des letzten Winters.

Stephan Denkendorf greift in seiner Erzählung „Die Hutfabrik“ in die Seelenkiste voller pastellfarbenen Blutes, er trägt die Sätze kurz und dick auf, um eine Aura zu beschreiben, die im Prospekt als „1900“ ausgerufen ist und sich dann bis fast in die jüngste Gegenwart hineinzieht.

Warum tut sich das die Meeresschildkröte an, dass sie Tausende Kilometer schwimmt, um zu fressen, und dann wieder zurück hechelt, um die Eier für die nächste Generation in den Heimatsand zu vergraben?

Delphine Coulin lässt das große Thema Migration auf den Mali-Bürger Samba Cissé einprasseln. Er ist nach dem Tod seines Vaters mit einem frischen Matura-Zeugnis in der Tasche aus Mali fortgegangen, um ähnlich der Schildkröte für das Essen und Überleben seines Clans zu sorgen. Nach mehrmaligem Scheitern gelangt er seltsam hartnäckig nach Paris, wo er bei seinem Onkel Unterschlupf findet. Knapp zehn Jahre lang geht alles gut, ehe Samba mit seiner Gutgläubigkeit gegenüber der Behörde alles ins Wanken bringt.

Held dieses kleinen Kosmos hinter einem Graubündner Bahnhof ist eindeutig die Sprache. Alles, was zur Sprache kommt, klingt heimisch und exotisch zugleich.

Arno Camenisch erzählt aus der Sicht eines großen Kindes vom Jahresablauf in einem kleinen Dorf, das wie in der Schweiz üblich, durch die Eisenbahn stündlich Anschluss an die Welt hat. Hinter dem Bahnhof ist meist die Subkultur situiert, schräge Geschäfte, Nutten und Drogen werden in Großstädten hinter dem Bahnhof abgewickelt. Nicht so hier, ein paar Vaterlandsverteidiger nehmen ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum und fahren irgendwohin, um sich mit einer Übung in der generellen Motivation aufzufrischen.

„Will man sich aber dem Alltag der Menschen nähern, ist es nicht damit getan, das nach heutigen Maßstäben oftmals grausame und primitive Mittelalter vom abenteuerlichen-bunten zu unterscheiden. Dieser Band versucht deshalb, die historische Vielfalt durch den Blick auf typischen Lebensformen zu ordnen.“ (12)

Zu den typischen Lebensformen, denen jeweils ein Kapitel im Buch gewidmet ist, zählen das Leben der Mönche und des Klerus sowie die Bedeutung des Religiösen in seinen verschiedenen Facetten ebenso wie das Leben der verschiedenen Stände wie Bauern, Ritter und Adel oder von Bürgern und Intellektuellen.

Über Frauen und andere Geschöpfe lässt es sich nicht in einem Plot erzählen, sondern der Sound dieser Themen muss erarbeitet werden wie in einer Oper.

Ada Zapperi Zucker ist es als Opernsängerin gewöhnt, die Botschaft in zwei, drei Atemzügen auf die Bühne zu stellen. Im Falle der sieben Erzählungen über die „Frauen und andere Geschöpfe“, die naturgemäß erotisch und ironisch eingefärbt sind, gelingt dieser subtile semantische Hauch durch die Zwei-Achsigkeit der Sprache. Die Erzählungen sind links auf Italienisch geschrieben und sorgfältig übersetzt rechts auf Deutsch zu lesen, das Geheimnis der Stimmung besteht aber im Hin- und Herwechseln der Sprache. Denn die Kernbegriffe werden mit Umkreisungen herausgearbeitet, die Bedeutung ist nie fertig, manches lässt sich nur in einer Bewegung übersetzen und nicht als straffe Denotation.

Die Regionalgeschichte wirkt umso verlorener, je weiter zurück sie in der Dunkelheit liegt. Wenn eine Gegend nicht eine saftige Schlacht oder ein paar einäugige Helden aufweist, tut sie sich verdammt hart, eine unsterbliche Bedeutung für die Geschäfte der Gegenwart nachzuweisen.

Tobias Pamer nimmt in seinem historischen Roman „Blutballaden“ seine engere Heimat Tarrenz, Starkenberg und Imst ins sprichwörtliche Visier, denn in den Jahren rund um 1405 lugen nur noch die wenigsten Kämpfer unter der Ritterrüstung hervor.

Im Idealfall schlägt eine bislang unbemerkte Literatur mit Wucht in der Lesercommunity ein und löst Neugierde, Freude und Diskussion aus. Durch die Aktion „Innsbruck liest“ ist heuer der bislang nur Insidern geläufige Roman „Zwischen Schaumstoff“ zu einem Kulturgut für die ganze Stadt geworden.

Im Roman von Didi Drobna geht es ungewöhnlich frech zu, denn die Heldinnen haben ihr Leben noch vor sich und wollen es anders gestalten, als man es ihnen mit diversen Tricks schmackhaft machen will. Die 16-jährige Lisa und die 7-jährige Daisy sind zu Beginn des Romans noch Teil einer Familienaufstellung, die sich aber schon nach den ersten Seiten als Fehlaufstellung erweist. Vater und Mutter schreien sich planlos durch den Haushalt, die Tante kann als Ärztin vermutlich nicht einmal Blutdruck messen und die Oma stirbt einen Sekundentod.

Im Bereich der inneren Sicherheit der Wiener Szenerie gibt es allgemein nur schwere Fälle, die von einem schwerfälligen Beamtenapparat nur mühsam abgearbeitet werden können.

Selbstverständlich ist in Peter Oberdorfers Wien-Krimi kein normales sondern schweres Gift im Einsatz. Nicht nur der Beamtenapparat legt alles als großen Fall aus, auch in den Zeitungen werden die Ereignisse schwer und groß dargestellt, dabei gilt die Faustregel, je kleinformatiger das Blatt, umso schwerer der Fall.

Was wie eine neue Krankheit oder nach einem psychologischen Verfahren klingt, ist sinngemäß übersetzt „der menschliche Frevel“, der wohl schon seit Erfindung der Sprache im Umlauf ist. Fraus hat auch mit Täuschung, Betrug, Vorspiegelung falscher Tatsachen zu tun. Als Fraus-Fachleute gelten Defraudanten.

Kurt Leutgeb stellt seine Fraus-Erzählung als Gerücht und Überlieferung dar. In fünf Schritten wird von einer Seuche im Jahre 331 vor unserer Zeitrechnung (VuZ) berichtet, wonach hundertsiebzig Matronen mit Kräuterexperimenten die römische Oberschicht vergiftet haben und deshalb liquidiert werden müssen.

Was im Windschatten hoher Tiere passiert, hat unser Land 2015 beim Gipfel im Schloss Ellmau oder bei den Atomverhandlungen mit dem Iran im Wiener Palais Coburg testen dürfen. Das Leben geht für die sterblichen Menschen weiter, wenn auch von dicken Security Cordons abgeschirmt.

Die Frage, wer ist drinnen und wer ist draußen, stellt sich auch beim Wiener Kongress 1814/1815, als man nichts anderes im Sinn hat, als die Welt neu zu ordnen. Hannes Leidinger nennt dieses Unterfangen „Trügerischer Glanz“, dabei berichtet er von den wichtigsten Ereignissen vom Gipfel, kümmert sich dann aber um das Volk, das zu dieser Zeit völlig missachtet von der Geschichtsschreibung sein Dasein fristen muss.